Bauers DepeschenMontag, 14. November 2016, 1697. DepescheFLANEURSALON IN DER ROSENAU MIT CHRISTINE PRAYON Sonntag, 11. Dezember: Joe Bauers Flaneursalon in der Rosenau. Lieder und Geschichten. Durch den Abend führt die famose Kabarettistin Christine Prayon. Musik machen der Gitarrist Steve Bimamisa und - erstmals - die südafrikanische Sängerin Thabilé sowie der Rapper Toba Borke & und der Beatboxer Pheel. Beginn: 19 Uhr! Karten im Vorverkauf gibt es hier: RESERVIX Der Klick zum LIED DES TAGES Den folgenden Text habe ich für die in diesem November erschienene Beilage zum 70. Geburtstag der "Stuttgarter Nachrichten" geschrieben: AUF DER SUCHE NACH DER WELT IM KESSEL Papier gibt Geräusche von sich, es raschelt, wenn man die Seiten einer Zeitung umblättert. Ich kann mich an Situationen erinnern, da hat mich dieses Rascheln in meinem Dunstkreis genervt und gereizt, und am liebsten hätte ich ein Zeitungsumblätterverbot verhängt, wäre mir nicht eingefallen, dass ich mit diesem MachoAnfall neben einer Beziehungs- auch eine Existenzkrise heraufbeschworen hätte. Es ist ja alles andere als übertrieben, wenn ich sage, dass ich inzwischen 44 Jahre lang von den ehrbaren Zeitungsumblätterinnen und Zeitungsumblätterern gelebt habe, und das womöglich gar nicht so schlecht. Ob ich der Kundschaft mit einer halbwegs angemessenen Arbeit etwas zurückgeben konnte, sei dahingestellt. Wobei – das wird man ja mal sagen dürfen – völlig offen ist, wer in all den Jahren nur geblättert oder wirklich auch gelesen hat. Wurscht. Beide Beschäftigungen bewerte ich als absolut gleichwertig: Das Sinnliche der Zeitung erfährt man auf verschiedenen Ebenen, und damit meine ich nicht nur das Haptische, die Erotik des Berührens, wie wir sie von der Vinyl-Platte, der Alternative zum digitalen Musikkonsum, kennen. Und sicher ist es manchmal besser, eine Zeitung nur unter den Arm zu klemmen und sich mit ihr alsIndividualist und Kultpfleger auszuweisen, als sie – ohne Rücksicht auf gesundheitliche Folgen – von vorne bis hinten zu lesen. Für den Zeitungsfritzen, der ich bin, sind die Leserinnen und Leser bis heute relativ unbekannte Wesen geblieben, auch wenn ich den einen oder die andere im Lauf der Zeit ganz gut kennengelernt habe. Dieser spezielle Mangel an Menschenkenntnis liegt nicht unbedingt an der Weltfremdheit oder Philanthropie des Schreiberlings, der aus Berufsgründen ja ein Herumtreiber und Naseweiser sein sollte. Doch gilt auch in diesem Fall der Feldforschung die schwäbische Weltformel für alle allzu menschlichen Rätsel: Man steckt halt nicht drin. Die Stuttgarter Nachrichten brauchen sich in meinen Augen gar nicht so viel einzubilden, wenn sie jetzt ihren 70. Geburtstag feiern. Nicht wenige ihrer Leserinnen und Leser haben dieses Alter bereits in Würde erreicht oder überschritten, und selbst unsereins ist nur läppische acht Jahre jünger als diese Zeitung. Erwähnt sei das nur, weil ich anno 1976, als ich bei den Stuttgarter Nachrichten anfing, das jüngste Redaktionsmitglied im gesamten Pressehaus war. Diesen Laden hatte ich als Gastarbeiter sogar schon früher kennengelernt, als er noch in der Räpplenstraße, in der Nähe des damals noch nicht zerstörten Bahnhofs, stand. Auch ich wundere mich gelegentlich, warum ich so lange im Kessel hängengeblieben bin, obwohl der Arbeitsmarkt in der Branche zu früheren Zeiten phasenweise so gut war, dass einige Lehr- und Wanderjahre durchaus drin gewesen wären. Die Jahre aber gingen schneller vorbei, als mir lieb war. Vor allem, seit ich mich mit einem Kapitel beschäftige, das – wie ich heute weiß – kein Ende hat: Ich wollte und ich will die Stadt kennenlernen, etwas herausfinden über dieses Kessel-Stuttgart, über die Stadt an sich. Wer damit mal angefangen hat, muss da durch wie ein Maulwurf und kann nicht einfach abhauen. Diese Haltung sollte jedoch nicht dazu führen, sich komplett einzukesseln. Es schadet nicht unbedingt, hie und da zu prüfen, warum es in Mexiko-Stadt weniger Feinstaub, in New York höhere Häuser und in Korntal noch mehr Pietisten gibt. Grundsätzlich aber gilt, was mich einst der nicht nur in Stuttgart weltbekannte Designer und Schriftsteller Kurt Weidemann gelehrt hat: „Wenn du es in Stuttgart nicht schaffst, schaffst du es auch in Texas nicht.“ Damit ist das Thema Texas gegessen, Stuttgart aber noch lange nicht verdaut. Sicher bin ich beim Zeitungsjournalismus auch deshalb gelandet, weil ich mich in der Schule mit einem Erlebnisaufsatz leichter tat als mit dem Satz des Pythagoras – und es schade fand, dass Albert Einstein, der uns auf Klo-Plakaten aufmunternd die Zunge rausstreckte, als es noch keinen Stinkefinger im Fernsehen gab, ausgerechnet Physiker und nicht Schriftsteller war. Damals gehörte die Zeitung unverzichtbar zum Leben, sie war wichtiger als Radio oder Fernseher, weil man sie mit sich herumtragen und überall ausbreiten konnte, im Café, im Wirtshaus und in der Eisenbahn. Natürlich kaufte ich mir schon in frühen Jahren auch „Die Zeit“ und den „Spiegel“, nur um diese Kioskbeute weithin sichtbar mit mir herumzuschleppen. Das meiste, was darin zu lesen war, verstand ich zwar nicht. Das aber spielte keine Rolle: Bedrucktes Papier mit journalistischen Inhalten bedeutete in meinen Augen immer mehr als nur Information. Das war schon so, als die Zeitung zum Informieren noch wichtiger war als heute, da ich im Taschentelefon neben vielen Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern auch das Internet mit mir herumtrage – dieses schon jetzt unendlich erscheinende Spinnennetz der Kommunikation, in dem fremde Bots die eigene Birne zu ersetzen drohen. Die Lokalzeitung lagerte einst so unverzichtbar in der elterlichen Wohnung wie Klopapier, und es war keine Seltenheit, dass beide Produkte am selben Ort zur selben Zeit allerhöchste Anerkennung beim selben User fanden. Schon als Schuljunge hatte ich mir vorgestellt, wie man in dieser Zeitung ein – äh, was ist das? – Interview veröffentlichen könnte – oder ein Gedicht, das unser Dorf für immer verändern und alle Idioten in der Kreisstadt mit einem Schlag erledigen würde. So gesehen war und ist die Zeitung ein Stück Heimat – selbst wenn man merkt, dass sie der Heimat nicht immer gerecht wird. Dass ihre Wahrnehmung politischer, gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen und Veränderungen womöglich etwas eingeschränkt ist. Weil Stuttgart beispielsweise nicht aus Fernsehturm und Neuem Schloss, Rathaus und Schlossplatz besteht. Weil Kehrwochen-Klischees und Maultaschen-Folklore herzlich wenig darüber erzählen, wie 600 000 Menschen aus aller Welt in mehr als 300 offiziell registrierten Stadtvierteln leben – weiß Gott nicht alle auf der Sonnenseite, wie es uns die verklärende „schwäbische“ Tüchtigkeit und die entsprechende Sicht auf das Leben manchmal weismachen wollen. Doch Selbstkritik gehört in keiner Branche zu den Kardinaltugenden. Da aber die eigenen Unterlassungssünden ja nicht unbedingt in der Zeitung stehen müssen, zurück zum Positiven: Durch die Auseinandersetzung mit der Zeitung habe ich die Stadt entdeckt – erlebt und erfahren, dass sie so viele Geschichten zu erzählen hat, wie sie so leicht nicht mal in die Heimatzeitung passen. Es macht großes Vergnügen, die Welt in einer Stadt zu entdecken, die weiß Gott keine Weltstadt ist, auch wenn es genügend Provinzgeister gibt, die dauernd so tun, um ihren fragwürdigen Umgang mit dieser Stadt zu kaschieren. Stuttgart, Deutschlands sechstgrößte Stadt, hat sich in meinen Zeitungsjahren gehörig verändert – nicht nur in der Nacht, die früher nur Eingeweihten und Spezialisten offenstand. Man muss nicht bekloppt sein, sondern nur ein wenig Gespür für Ironie haben, um seine kleine Welt auch mal mit großen Augen zu sehen: „Stuttgart gehört zu den schönsten Städten des Kontinents. Im Sommer ist’s im Talkessel heiß wie im Süden. Die Vegetation gedeiht wie im Treibhaus. Der Schlossplatz erinnert an Paris, der Hasenberg an Florenz, der Weißenhof an Algier, dank einer sowohl südlichen als auch radikal modernen Bauweise . . .“, hat Willi Baumeister mal geschrieben, dieser große Stuttgarter Künstler, dessen Bilder schon in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in New York ausgestellt wurden. Wie mit diesen Schönheiten umgegangen wurde und wird, steht auf einem anderen Blatt – und leider nicht immer in der Zeitung. Schon sind wir bei der Stadtgeschichte, die in Stuttgart lange unverantwortlich dürftig aufgearbeitet wurde, auch im Vergleich zu anderen Städten. Umso mehr ist es die Aufgabe einer Zeitung, aufzuklären und auf Missstände hinzuweisen. Immer wieder haben auch die Stuttgarter Nachrichten entscheidend mitgeholfen, Wahrzeichen der Stadtgeschichte zu retten. Das Neue Schloss, die Weißenhofsiedlung, die Oper. Doch geht es beileibe nicht nur um die ästhetische Bedeutung von Baudenkmälern in einer Stadt, die nicht davor zurückschreckt, ihre Ressourcen, gar ihren Fluss oder ihr einzigartiges Wasser zu missachten und ihren urbanen Charakter zu zerstören, wenn es um Profite geht. Der Titel einer sehr gut besuchten Ausstellung am Rand der berühmten Weißenhofsiedlung im Jubiläumsjahr dieser Zeitung lautete treffend: „Stuttgart reißt sich ab“. Angesichts der Mietkostenexplosion und der zunehmenden Wohnungsnot in Stuttgart ist es heute alles andere als eine ideologische Floskel, wenn wir uns die Frage stellen: „Wem gehört die Stadt?“ Die gegenwärtige politische Entwicklung, die Gefahr eines extremen Rechtsrucks, hat auch viel mit den Wohnverhältnissen einer Stadt zu tun. Auch in solchen Zeiten muss die Zeitung etwas tun: Zusammenhänge aufzeigen, Verbindungen herstellen, die Dinge erklären. So gesehen, können wir beim Umblättern nach wie vor neben der Information auch Spaß finden – wenn sich das Rascheln noch frisch riechender Blätter wie Musik anhört: Der Sound einer gut gefüllten Papierzeitung klingt sicher nicht nur in meinen Ohren erregender als das Blättern am Bildschirm. Das alles kann ich doch einfach mal behaupten, bevor ich jetzt einen Punkt mache an meinem megageilen Zeitungscomputer. |
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