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Donnerstag, 13. Oktober 2016, 1687. Depesche



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FLANEURSALON LIVE

> Donnerstag, 3. November: Flaneursalon im Esslinger Kabarett der Galgenstricke: mit Loisach Marci, Anja Binder und Rolf Miller.

> Sonntag, 11. Dezember: Flaneursalon in der Rosenau mit der Kabarettistin Christine Prayon und den Musikern Steve Bimamisa & Thabile, Toba Borke & Pheel. Beginn: 19 Uhr!

> 31. Dezember: 2 x Silvester-Flaneursalon im Theaterhaus: mit Stefan Hiss, Eva Leticia Padilla, Rolf Miller und Michael Gaedt. 1. Show um 19.15 Uhr, 2. Show um 21:15 Uhr. Der Vorverkauf hat bereits begonnen.

Die aktuelle StN-Kolumne: 



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SECHZIG JAHRE ASPHALT

Eine Bar erkennst du als gute Bar, wenn keine Gäste da sind. Wenn sie auch ohne Menschen voller Leben ist und Geschichten erzählt. Die Uhu-Bar in der Leonhardstraße ist ein solcher Ort.

Es ist Nachmittag, Oskar und ich sind allein im Lokal, es hat noch geschlossen. Durch die Butzenscheiben schimmert Tageslicht, und der alte, auch bewusst auf alt getrimmte Laden sieht aufgeräumt aus.

Würde Oskar nicht mit mir am Tisch sitzen, wäre er für mich dennoch präsent. In dieser Bar würde ich sogar mit ihm reden, wenn er gar nicht da ist: Er ist nicht wegzudenken.

Dabei ist Oskar, der Mann mit der Stetson-Schiebermütze, nicht gerade raumfüllend. 168 Zentimeter klein, 66 Kilo leicht. Im Profiboxen startest du damit im Weltergewicht und wirst nicht unbedingt weltberühmt. Oskar hat die Zeit der Kämpfe hinter sich. Freunde von ihm haben mir erzählt, dass er ein zäher Kämpfer war. Kleiner als die Gegner, aber wuselig, vor allem furchtlos. Im Ring wie auf der Straße. Jetzt geht er auf die Achtzig zu und ist womöglich der älteste Türsteher der Welt.

Oskar nennt sich „Tormann“. Als er im September 2006 seine Bar im Hochparterre des gleichnamigen Altstadtpuffs eröffnet, ist seine schärfste Waffe ein Besenstiel. Er klemmt ihn diagonal in die Tür seines wohnzimmergroßen Etablissements und wartet, bis jemand klopft. Dann schaut er durch das Tor zu seiner Puppenstube für Fortgeschrittene, und wenn ihm sein Bauchgefühl sagt, er habe es mit einem guten Gast zu tun, nicht mit einem Freier aus den oberen Stockwerken, nimmt er den Besenstiel weg. Nach tausend Jahren Rotlicht – Oskar sagt: „sechzig Jahre Asphalt“ – kannst du dich auf deine Sensoren verlassen.

An diesem Samstag feiert die Uhu-Bar ihr zehnjähriges Bestehen. Oskar ist nicht mehr der Chef des Lokals, vor zwei Jahren hat er die Leitung einer Frau übertragen: Jetzt schmeißt Klaudia Kacijan den Gemischtwarenladen. Bei ihr treffen sich wie gehabt Stammgäste und Neugierige. Große und Kleine. Mann und Maus.

Oskar, dessen richtiger Name nicht Oskar ist, schwebt über den Dingen, ganz gleich, wo er ist. Er ist der Uhu-Mann. Bürgerlich heißt er Peter Müller. Manche seiner Freunde nennen ihn auch „Pitt“; mir hat er mal gesagt, ich solle den Pitt mit zwei t schreiben. Diese Pits mit einem t gibt’s ja ohne Ende.

Herr Müller, 1937 in Leipzig geboren, ist einer der Letzten seines Fachs: einer der Veteranen des untergehenden alten Rotlichtmilieus. Wer davon erzählt, handelt sich immer leicht den Vorwurf ein, das Böse zu romantisieren. Die Zuhälterei, die Frauenausbeutung. Das Verbrechen.

In letzter Zeit habe ich Oskar öfter getroffen. Nicht in der Bar, er war spazieren im Viertel oder auf einen Kaffee im Brunnenwirt. Zuletzt hat er eine Menge mitgemacht. Das Herz, Krankenhaus, drei Stents. Während wir uns unterhalten, raucht er, wie immer. Ich merke, dass er etwas müde ist, und ich kann spüren, dass er in sich ruht, mit sich im Reinen. Weißt du, Junge, scheint er mir zu sagen, wenn er nichts sagt, es gäbe noch verdammt viel zu sagen, aber vieles ist auch schon gesagt.

Er erzählt, wie er als kleiner Junge mit seiner Mutter bei den Bauern zum Stehlen ging. Sein Vater saß im Rollstuhl. Der Krieg. Mitte der Fünfziger verschwindet Peter aus der DDR, geht nach Hamburg, heuert später in der Schweiz beim Circus Knie an. Anfang der sechziger Jahre bleibt er, eher versehentlich, in Stuttgart hängen. In diesem merkwürdigen Kessel geht was: die Altstadt, die Rotlichtbaracken auf dem Gelände des heutigen Schwabenzentrums, als „Vereinigte Hüttenwerke“ bekannt.

Nach ein paar Jahren zieht er weiter nach Frankfurt, wie sein alter Freund, der aus Waiblingen stammende Hagen Sevecke, genannt Hako. Der ist bis heute einer der Großen im Rotlichtgeschäft, bekannt ­geworden vor allem als Cornerman, als Mann in der Ringecke des Boxstalls Sauerland. Hako gilt als konsequent, besonnen, diplomatisch. Und ist immer da, wenn einer der alten Freunde in Not gerät.

Peter Müller nennt man Oskar, seit er schon in frühen Jahren beachtliche Zeugungsqualitäten bewies: Damals war gerade die Comicserie „Oskar der Familienvater“, mit einem Kater als Titelhelden, populär.

Oskar ist ein Straßenjunge, einer, der sich durchboxt und auch etwas lernt über Eleganz und Stil. Im Milieu spielt er die meiste Zeit eine ähnliche Rolle wie die Fußballtrainer, die man Feuerwehrmänner nennt: Man holt ihn, wenn irgendwo der Abstieg droht – in einer Bar in Frankfurt oder in Hamburg, St. Pauli. Er kommt viel rum, kocht in einer deutschen Kneipe an der französischen Cote d’Azur und führt nach der Wende einen Imbiss im Leipziger Bahnhof.

Die jungen Gäste im Uhu fragen ihn bis heute nach den alten Geschichten. Ja, damals: Man kann es in zwei alten „Spiegel“-Artikeln im Internet nachlesen, die Sache in der Berliner Bleibtreustraße, „die erste Straßenschlacht mit Schuss­waffen nach dem Krieg“. Ein Zuhälterkrieg.

Im Juni 1970 reisen die Jungs aus Stuttgart und Frankfurt schwerbewaffnet nach Berlin, um gegen persische Zuhälter und Drogendealer zu kämpfen. Ein Perser stirbt bei der Schießerei, drei weitere werden getroffen. Oskar mischt auf der deutschen Seite mit – und flieht nach der Schlacht vor der Polizei nach Frankreich. Er hat Glück, andere Jungs landen im Knast.

Viele Male hat man dieses blutige Ereignis in der Stuttgarter Altstadt besprochen, in allen Variationen; ein paar, die dabei waren, leben noch. Die alten Geschichten wirst du nicht los. Die Uhu-Bar in der Leonhardstraße aber ist Gegenwart, ein Bienenkorb zur Steigerung der Lebens­qualität in einem sogenannten Problemviertel, über dessen Probleme naturgemäß die Ahnungslosen am meisten wissen.

An einem der letzten Freilufttage der Saison sitzen wir vor dem Brunnenwirt. Oskar erzählt mir die Geschichte, wie er einst in Cannes die Privatsekretärin des französischen Bestseller-Autors Guy des Cars kennenlernte und von ihr in dessen Wohnung nach Paris eingeladen wurde. Des Cars war ein besessener Zirkus-Liebhaber, und das Leben von Peter Pitt Oskar Müller erinnert an großes Varieté mit gefährlichen und krummen Touren, mit schrägen, glanzvollen und liebenswerten Nummern. Am heutigen Donnerstag feiert Oskar seinen 79. Geburtstag. Er hat, trotz allem, verdammt gut durchgehalten, unser Uhu-Mann.



 

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