Bauers Depeschen


Dienstag, 25. Oktober 2016, 1691. Depesche



 



FLANEURSALON LIVE

> Sonntag, 11. Dezember: Flaneursalon in der Rosenau mit der Kabarettistin Christine Prayon und den Musikern Steve Bimamisa & Thabile, Toba Borke & Pheel. Beginn: 19 Uhr!

> 31. Dezember: 2 x Silvester-Flaneursalon im Theaterhaus: mit Stefan Hiss, Eva Leticia Padilla, Rolf Miller und Michael Gaedt. 1. Show um 19.15 Uhr, 2. Show um 21:15 Uhr. Der Vorverkauf hat bereits begonnen.



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LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



KOPFSTEINHÖLLE

Heute wieder ein Versuch, das Brett vor dem Kopf zu zertrümmern, den Stuttgart-Kessel zu öffnen, warum auch immer. Vielleicht darum: Zu meinen Lieblingsorten gehören die historischen Reste der Altstadt, östlich der Stadtautobahn, auch Leonhardsviertel und Bohnenviertel genannt. Dieses Gebiet, den meisten Leuten nur als Rotlichtmilieu bekannt, hieß früher Leonhardsvorstadt – und auch Esslinger Vorstadt. Dieser Name tauchte erstmals 1475 auf, nachdem ein gewisser Graf Eberhard der Milde (1363 bis 1417) die Stadterweiterung rund um die heute 550 Jahre alte Leonhardskirche nach Prager Vorbild eingeleitet hatte.

Ich kann hier jedoch nicht Stuttgarts ganze Stadtgeschichte herunterbeten, nur um zu rechtfertigen, warum ich mit der S-Bahn nach Esslingen gefahren bin, in 17 Minuten. Selbstverständlich hätte ich auch eine Fußreise machen können, über die Uhlbacher und Rotenberger Weinberge oder auf dem Trampel- und Radweg zwischen Neckar und B 10. Man muss es aber nicht übertreiben, schon weil es am Tag meines Esslingen-Trips herzhaft regnete.

Vor dem Aufbruch hatte mich der Gedanke umgetrieben, dieses Esslingen müsse eine gewaltige Bedeutung für Stuttgart haben. Im späten Mittelalter gab es in Stuttgart ein Äußeres und ein Inneres Esslinger Tor – das eine beim heutigen Hochhaus am Charlottenplatz, das andere beim Breuninger. Nicht zu vergessen die 1472 so benannte Esslinger Straße im Bohnenviertel, die bis zum Zweiten Weltkrieg sehr schön gewesen sein muss. Was von ihr überlebt hatte, ließen die Politiker mit gewohnt sicherem Gespür für das Hässliche plattmachen.

Der 2001 verstorbene Historiker Otto Borst hat beschrieben, dass Stuttgart noch im 18. Jahrhundert, als in dieser Stadt schon weit und breit am meisten Menschen lebten, ein ziemliches Provinznest war – und es mit der „urbanen Weltläufigkeit Ulms oder Heilbronns“ hinten und vorne nicht aufnehmen konnte. Und deshalb auch gegen Esslingen voll abschiffte.

Es wäre anmaßend, ein Urteil über eine Stadt zu fällen, nur weil ich einige Stunden darin herumgeirrt bin, auch noch unter miesen Bedingungen. Da ich mir nichts dabei gedacht hatte, in Stiefeln mit Absätzen loszuziehen, wurde meine kleine Tour zur regelrechten Tortur. Jedes Kind weiß, dass Esslingen extrem mittelalterlich geprägt ist und über Straßenbeläge verfügt, die man Kopfsteinpflaster nennt. Mir fällt ein, wie ich als kleiner Junge nach einem Höhlenausflug Kopfsteinpflaster ziemlich lange als „Tropfsteinpflaster“ bezeichnet habe. Das Wort „Kopfsteinpflaster“ wollte einfach nicht in meinen Sprachspeicher.

Es wäre nicht fair, Esslingen heute im Zorn als Kopfsteinhölle runterzuputzen. Ganz im Gegenteil. Wenn du mit falschem Schuhwerk bei Regen durch eine Stadt gehst, unterziehst du sie einem ähnlichen Härtetest wie früher Rockmusiker ihre Aufnahmen: Ihre neuen Kassetten steckten sie nicht etwa in hochwertige Anlagen, sondern in die Rekorder lausiger Autoradios. Gingen die Songs dennoch aufs Gemüt, waren sie gut.

Und schon bin ich bei der Musik. Seit einiger Zeit machen mutige Stuttgarter Punkrock-Bands wie Die Nerven und Human Abfall weit über den Kessel hinaus Furore. Den Humus für ihren Sound findet man in Wirklichkeit in Esslingen, im Kulturzentrum namens Komma. Flávio Bacon, der Sänger von Human Abfall, erklärt es mir: „Die Essenz von Punk ist für mich immer noch eine Grundhaltung zum Do-it-yourself, unabhängig von Mode oder Kunstverständnis. Diese Do-it-yourself-Kultur wird in Esslingen gelebt und weitergegeben. Wir machen den Sound, der uns gefällt, ohne auf Kommerzielles zu achten.“

Ein Fehler ist es sicher, nach Esslingen über die Bahnstation vorzudringen, selbst im Wissen, dass einst die Eisenbahnlokomotiven des Landes aus der Esslinger Maschinenbaufabrik rollten. Heute gibt es keinen richtigen Bahnhof mehr, er wurde besetzt von Burger King und Sparda-Bank. Davor erhebt sich ein bräunlicher Einkaufsklotz mit unschlagbarem Namen: „Das Es“. Vermutlich steht dieses „Es“ unbewusst für die Triebhaftigkeit in der Freud’schen Definition der Psyche, auch wenn die Buchstaben nur dem Esslinger Autokennzeichen entlehnt sind. Fast logisch, dass in diesem Bau auch ein Ärztezentrum logiert.

Hast du den Bahnhofsplatz und die ebenso hässliche Fußgängerzone mit dem CDU-Büro am Ende links hinter dir gelassen, trittst du in eine Welt voller Wunder. Altstadt. Großes Fantasy-Kino. Überall Fachwerk, ein Haus älter als das andere. Verwinkelte Gassen, Neckarkanäle, Mühlräder für den Ökostrom. Und auf einmal ist es Wurscht, ob es regnet und der Tropfstein schmerzt. Die Kassette im Autoradio funktioniert, vor meinen feuchten Augen läuft ein Tonfilm: Ich sehe Menschen in sommerlichem Abendlicht vor den Cafés in den Gassen sitzen, ein Straßenmusiker spielt, mitten in dieser architektonischen Wucht des Mittelalters. In dieser Entschleunigungskommune verschwindet der Geruch vom Esslinger Hengstenberg-Essig, den nur der bösartige Fremde mit dem guten Wein von den schönen Hängen über der Stadt verwechselt.

Natürlich bin ich auch ein Stück die Hügel hinaufgestiefelt, über den Neckarhaldenweg mit seiner famosen Aussicht auf die Stadt. Und manchmal freue ich mich richtig über meine Ahnungslosigkeit, etwa wenn ich die vielen Pfleghöfe in der Stadt für die Filialen eines Altersheimkonzerns halte. Bis ich erfahre, dass die Kloster­mönche in diesen Pflegehof genannten Häusern ihre irdischen Geschäfte abwickelten – bevor sich die Punkmusiker gegen das heilige Profitdenken auflehnten.

Klar hatte ich früher auch schon von der Esslinger Burg gehört, aber nicht mitbekommen, dass sie zum Großteil nur aus einem Turm besteht. Diesen fetten Kerl hat man „Dicker Turm“ getauft – der beste Name, den ein Turm haben kann und der nichts zu tun hat mit der legendären Esslinger Feilenhauerei Dick, deren ehemalige ­Fabrikgebäude längst für ein Einkaufs- und Erlebniscenter herhalten müssen.

Esslingen mit seinen 90 000 Einwohnern grenzt auf den Hügeln und am Neckar direkt an Stuttgart, weshalb der Kessel insgesamt vielleicht doch nur eine Esslinger Vorstadt ist – der Pfleghof des ganzen Landes für dicke und üble Geschäfte.

So, das war genug Honig für die liebe Nachbarschaft. Adios, Esslingen. Ich kessle mich wieder ein.



 

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