Bauers Depeschen


Montag, 08. Juni 2020, 2221. Depesche



 



FLANEURSALON LIVE

Noch mal zum Flaneursalon im Theaterhaus-Garten am Samstag, 20. Juni. Beginn ist jetzt um 19:30 Uhr, NICHT wie ursprünglich geplant um 20 Uhr. Zurzeit basteln die TH-Leute noch am Bestuhlungsplan. Wann der Vorverkauf (telefonisch und online) genau beginnt, teile ich hier rechtzeitig mit. Bei schlechtem Wetter findet unsere Lieder- und Geschichtenshow im T2 statt. Die Zahl der Gäste ist auf 90 beschränkt.





HIER MEIN WORTBEITRAG auf der heutigen Online-Montagsdemo gegen Stuttgart 21 als Text - und die komplette Demo auf Video: PROTEST 21



Liebes Protestpublikum an den Bildschirmen,

als ich die Zeilen, die ich Ihnen jetzt vortrage, am Sonntag notiert habe, stand ich noch unter dem Eindruck der Aktionen vom Samstag gegen den Rassismus. Das war wie ein Naturereignis, das man erst einmal verkraften und einordnen muss. Auch in Stuttgart waren Tausende auf der Straße und demonstrierten in den Bereichen des nicht abgeholzten Schlossgartens. Eine ähnliche Massendemonstration habe ich schon länger nicht mehr erlebt, ausgenommen die Aktionen der Fridays-for-Future-Bewegung, deren Größenordnung ich eher zufällig als Tourist auch in Berlin und Wien wahrgenommen habe. Beiden Aufrufen, sowohl gegen den Rassismus als auch für den Klimaschutz, folgten massenhaft vor allem junge Leute. Beide Aufrufe waren eine Antwort auf die Angriffe auf die Menschlichkeit und die Zerstörung des Lebens. In beiden Fällen geht es um ein rücksichtsloses Wirtschaftssystems namens Kapitalismus. Es ist der Kapitalismus von Weißen, der mit seinen feudalistischen Auswüchsen in seiner neoliberalen Hochphase weiterhin bedingungsloses Wachstum und maximalen Profit durchprügelt. Sie reden von Fortschritt und Zukunft, während sie jeden fortschrittlichen Einsatz für eine vernünftige Zukunft zu verhindern versuchen.

Die Begriffe Wachstum und Profit haben wir oft auch im Zusammenhang mit Stuttgart 21 gehört. Viele von uns haben begriffen, dass es bei diesem Milliardenspiel um die Gewinne aus Immobilienhai-Geschäften geht. Bei solchen Größenwahnprojekten gibt es keine Rücksicht auf die Menschen und humane Lebensbedingungen.

Ich erzähle Ihnen das, weil ich mich mit all diesen Dingen ohne die Bewegung gegen Stuttgart 21 vermutlich weit weniger beschäftigt hätte, als ich es heute tue, auch im praktischen Sinn.

Am Anfang des Protests gegen Stuttgart 21 konzentrierte sich der Blick, vor allem der mediale, sehr stark auf das Symbol der Bewegung, den Bahnhof. Ich selbst habe eine besondere Beziehung zum Bahnhof an sich. Eine Erfahrung, die mich davor bewahrt hat, eine Eisenbahnstation zu romantisieren und verklären.

Tatsächlich wurde ich 1954 bei Schwäbisch Gmünd in der Dienstwohnung eines Dorfbahnhofs geboren. Dieses Sandsteingebäude mit Platz für Weichenhebel, Wartesaal und Fahrkartenschalter gibt es längst nicht mehr, es wurde durch einen fortschrittlichen Fahrkartenautomaten ersetzt. Die Umgebung meiner Kindheit waren Gleise und Schotter, ein sehr belebter Güterbahnhof und in den Schränken unserer Wohnung das Geschirr, das bei jedem einfahrenden Zug schepperte. Diese Dinge haben mir beigebracht, dass die Eisenbahn sehr viel mit dem realen Leben zu tun hat. Mein späteres Interesse für Bücher, Filme und Songs hat diese Wahrnehmung bestätigt, und beim Blick auf einen Bahnhof sah ich dann bald mehr als nur eine Haltestelle für Züge.

Die Symbolik des Bahnhofs mit all den Geschichten vom Ankommen und Weggehen kann ich hier nur andeuten. Weiß der Teufel, warum mir zum Beispiel immer wieder einfällt, dass der große Revolutionär Albert Dulk im Jahr 1884 ausgerechnet im alten Stuttgarter Bahnhof einen tödlichen Herzinfarkt erlitt.

Eigentlich eine traurige Anekdote, für mich aber im zeitlichen Abstand eher lustig: Kein Wunder, Herr Dulk, sage ich, ein Stuttgarter Bahnhof kann dir immer leicht den Rest geben. Der Trauerzug für den Sozialisten Albrecht Dulk wurde übrigens zur größten Massendemonstration während der Sozialistengesetze.

Im früheren Bahnhof an der heutigen Bolzstraße sind die Metropol-Kinos untergebracht, nebenan stehen die alten Mauern des ehemaligen Hotels Marquardt. Dort nächtigten Abgeordnete der Regierung Friedrich Ebert, nachdem sie im März 1920 beim Kapp-Putsch vor Freikorps mit Hakenkreuz am Helm aus Berlin nach Stuttgart geflüchtet waren. Und heute, im Hier und Jetzt unserer Stadt, erzählt mir eine schwarze Sängerin, dass sie beim Warten auf ihren Zug im Bahnhof immer ganz automatisch einige Meter Abstand vom Bahnsteig hält. Die Furcht vor rassistischen Angriffen ist permanent präsent, wie ich es mir als privilegierter Weißer nicht vorstellen kann.

Solche Geschichten erinnern mich daran, was ein Bahnhof alles bedeutet. Welche Signale er sendet. Ich sage es etwas präziser und persönlicher: Ohne den jahrelangen Kampf gegen die Zerstörung des Stuttgarter Paul-Bonatz-Baus wären mir einige Lichter nicht aufgegangen. Dazu gehört meine heutige Sicht, dass bei einer politischen Aktion nicht allein der Erfolg zählt, sondern vor allem die Bereitschaft, immer aufs Neue etwas gegen politische Schweinereien zu tun. Sich zusammen mit anderen zu organisieren und zu wehren gegen die zerstörerischen Machenschaften und Ungerechtigkeiten eines Systems.

Deshalb ignoriere ich den ständigen Vorwurf, es sei doch sinnlos, weiterhin gegen Stuttgart 21 zu protestieren, weil das Schwachsinnsprojekt ja so oder so gebaaut werde. Protest, liebe Freundinnen und Freunde, ist mehr als ein Zeichen des Dagegen-Seins. Protest bedeutet immer auch Aufklärung über die herrschenden Verhältnisse. Protest heißt, sichtbar Position zu beziehen. Und gerade jetzt in der Pandemie-Krise ist Aufklärung bitter nötig. Etwa darüber, wie die zu erwartende Wirtschaftskrise wie andere Krisen zuvor auf dem Rücken der ohnehin Benachteiligten und Verletzlichen unserer Gesellschaft abgeladen werden soll.

Gut und wichtig ist es in diesem Corona-Zusammenhang, dass das Organisationsteam der Montagsdemos sich eindeutig von allen Querdenkfront-Aufmärschen distanziert hat – von diesen absurden, faschistisch unterwanderten Inszenierungen und verschwörerischen Behauptungen.

Nebenbei bemerkt: Es ist absolut zu wenig, nur anderthalb Meter Abstand zu Nazis zu halten. Faschisten und Rassisten darf man allenfalls näher kommen, wenn es gilt, sie zurückzudrängen und zu bekämpfen. Diese Anstandsregel muss für jede demokratische Bewegung gelten. Auch für die gegen Stuttgart 21.

Liebe Freundinnen und Freunde, kaum ein Ort zeigt uns das Nebeneinander und Beieinander unterschiedlichster Menschen so anschaulich wie ein Bahnhof. Er zeigt die Welt im Kleinen. Schon deshalb führt der Protest gegen Stuttgart 21 inhaltlich und emotional weit aus einem Bahnhofsgebäude hinaus. Und voraussichtlich schon bald gibt es auch einen Weg aus dem Internet heraus zurück auf die Straße.

Durchhalten und mutig bleiben! Vielen Dank!









 

Auswahl


Depeschen 2311 - 2318

Depeschen 2281 - 2310

Depeschen 2251 - 2280

Depeschen 2221 - 2250
18.01.2021

14.01.2021

05.01.2021
30.12.2020

26.12.2020

22.12.2020
08.12.2020

03.12.2020

18.11.2020
07.11.2020

22.10.2020

09.10.2020
07.10.2020

01.10.2020

30.09.2020
23.09.2020

09.09.2020

26.08.2020
17.08.2020

13.08.2020

10.08.2020
29.07.2020

15.07.2020

05.07.2020
01.07.2020

27.06.2020

21.06.2020
17.06.2020

11.06.2020

08.06.2020

Depeschen 2191 - 2220

Depeschen 2161 - 2190

Depeschen 2131 - 2160

Depeschen 2101 - 2130

Depeschen 2071 - 2100

Depeschen 2041 - 2070

Depeschen 2011 - 2040

Depeschen 1981 - 2010

Depeschen 1951 - 1980

Depeschen 1921 - 1950

Depeschen 1891 - 1920

Depeschen 1861 - 1890

Depeschen 1831 - 1860

Depeschen 1801 - 1830

Depeschen 1771 - 1800

Depeschen 1741 - 1770

Depeschen 1711 - 1740

Depeschen 1681 - 1710

Depeschen 1651 - 1680

Depeschen 1621 - 1650

Depeschen 1591 - 1620

Depeschen 1561 - 1590

Depeschen 1531 - 1560

Depeschen 1501 - 1530

Depeschen 1471 - 1500

Depeschen 1441 - 1470

Depeschen 1411 - 1440

Depeschen 1381 - 1410

Depeschen 1351 - 1380

Depeschen 1321 - 1350

Depeschen 1291 - 1320

Depeschen 1261 - 1290

Depeschen 1231 - 1260

Depeschen 1201 - 1230

Depeschen 1171 - 1200

Depeschen 1141 - 1170

Depeschen 1111 - 1140

Depeschen 1081 - 1110

Depeschen 1051 - 1080

Depeschen 1021 - 1050

Depeschen 991 - 1020

Depeschen 961 - 990

Depeschen 931 - 960

Depeschen 901 - 930

Depeschen 871 - 900

Depeschen 841 - 870

Depeschen 811 - 840

Depeschen 781 - 810

Depeschen 751 - 780

Depeschen 721 - 750

Depeschen 691 - 720

Depeschen 661 - 690

Depeschen 631 - 660

Depeschen 601 - 630

Depeschen 571 - 600

Depeschen 541 - 570

Depeschen 511 - 540

Depeschen 481 - 510

Depeschen 451 - 480

Depeschen 421 - 450

Depeschen 391 - 420

Depeschen 361 - 390

Depeschen 331 - 360

Depeschen 301 - 330

Depeschen 271 - 300

Depeschen 241 - 270

Depeschen 211 - 240

Depeschen 181 - 210

Depeschen 151 - 180

Depeschen 121 - 150

Depeschen 91 - 120

Depeschen 61 - 90

Depeschen 31 - 60

Depeschen 1 - 30




© 2007-2024 AD1 media ·