Bauers Depeschen


Samstag, 12. November 2016, 1696. Depesche



FLANEURSALON IN DER ROSENAU

MIT CHRISTINE PRAYON

Sonntag, 11. Dezember: Joe Bauers Flaneursalon in der Rosenau. Lieder und Geschichten. Durch den Abend führt die famose Kabarettistin Christine Prayon. Musik machen der Gitarrist Steve Bimamisa und - erstmals - die südafrikanische Sängerin Thabilé sowie der Rapper Toba Borke & und der Beatboxer Pheel. Beginn: 19 Uhr!



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LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



REGEN UND GRAUPEL

Er ist gegangen, im November, lange bevor der erste Schneemann im Regen und in Graupeln stehen wird.

In der Nacht zum 11. November, als mein Taschentelefon am Kabel hängt, aber nicht auf lautlos geschaltet ist, weckt mich um Viertel vor vier das Klingeln einer SMS. Die Nachricht kommt aus Michigan/USA, und es ist keine von der Sorte, die man um­gehend löscht in der Hoffnung, für die Fortsetzung der verdienten Nachtruhe eines alternden Spießers stehe draußen im Novemberregen der Sandmann mit einer Keule bereit.

In der SMS lese ich, einer der großen Dichter unserer Zeit sei tot: die goldene Stimme, der Lady Killer, der Undercover Lover, der demütige Vater der berührenden Worte. Ausgerechnet in den Tagen der großen Veränderungen sei dieser inspirierende Geist der Musik und Poesie von uns gegangen. Trauer. Tränen.

Nachdem ich ein paar, so hoffe ich, tröstende Zeilen zurückgeschrieben habe, gehe ich zum Plattenregal. Zu meiner großen Überraschung entdecke ich neben anderen Scheiben des Undercover Lover das dreiteilige Vinyl-Album „Live In London“. Ich wusste nicht mehr, dass ich es vor Jahren gekauft habe. Dem Sandmann sage ich, er könne schlafen gehen und wiederkommen, wenn ich die Sache mit dem Schneemann erledigt hätte. Auf dieser Platte findet sich die sehr schöne „Recitation“-Version des Songs „A Thousand Kisses Deep“ mit den Regen- und Graupel-Sätzen „I’m just another snowman standing in the rain and sleet, who loved you with his frozen love“, aufgenommen 2009, im Jahr bevor Leonard Cohen zum letzten Mal in Stuttgart auftrat.

Der Tod Leonard Cohens, dachte ich im ersten Augenblick, ist die Antwort auf den Wahlsieg Donald Trumps. Doch ist diese These nicht sehr schlüssig. Der große Songschreiber war zwar Amerikaner, allerdings gebürtiger Kanadier und geborener Weltmann. Als Trump gewonnen hatte, lenkte ich mich eine Weile ab mit den Gedanken an die Frauen und Männer der USA, die gute Bücher schreiben und gute Musik machen, gute Kunst und gute Filme produzieren, und an die vielen Menschen, die womöglich gute Dinge tun, auch wenn sie niemand kennt.

Was soll ich machen. Amerika ist mir nah, hab’s gefressen, seit Huckleberry Finn und Winnetou – und der Übergang von Winnetous Hengst Iltschi im „Schatz im Silbersee“ zu Dennis Hoppers Harley in „Easy Rider“ war ja geradezu fließend.

Amerika ist überall. Beim Blick auf Trumps Frisur fiel mir gestern ein: Vor dem einstigen US­Konsulat in der Stuttgarter Urbanstraße hat 1998 ein umstürzender Fahnenmast einen Passanten erschlagen. Heute erscheint mir dieses tragische Unglück wie eine Bagatelle bei der Vorstellung, was die Kommandozentralen Eucom und Africom in Vaihingen und Möhringen unter amerikanischer Flagge anrichten können, wenn sie wollen.

Als Leonard Cohen am 1. Oktober 2010 in Stuttgart auftritt, logiert er mit seiner Crew im Hotel Le Méridien an der Willy-Brandt-Straße, gegenüber vom Schlossgarten. Einen Tag vor ihrer Show gehen die Musiker spazieren und sehen die Szenen im Park. Einer von ihnen, sichtlich verunsichert, fragt einen Mitarbeiter des Veranstalters: „Jesus, was machen die vielen Militärs im Park? Ist schon wieder Krieg in Deutschland?“

Es war der Schwarze Donnerstag am 30. September 2010, der Tag, an dem eine Polizeiarmee die Stuttgart-21-Gegner niederknüppelte, um die Bäume zu fällen und den Park zu besetzen. Tags darauf dann dieser denkwürdige Abend mit Leonard Cohen in der Schleyerhalle. Die Floskel sei erlaubt, es ist Zauber, diese Art Magic, die schwer zu beschreiben ist: Der kleine Mann mit Hut und Gitarre strahlt weithin spürbar eine innere Ruhe und Gelassenheit aus, die mit dem Begriff „Präsenz“ allein nicht zu erklären ist. Sein angerauter Bariton raunt und haucht, bis jeder auch noch in der letzten Reihe begreift, warum das Leise oft lauter und intensiver einschlägt als Lärm – und sich nicht mal von der Hässlichkeit einer Mehrzweckhalle dämmen lässt.

Leonard Cohen bedankt sich im Lauf des Abends beim Publikum: Es sei ein Privileg, sagt er, sich bei einem Konzert zu treffen, während Chaos und Dunkelheit die Welt in Beschlag nehmen. Und dann, in der Halle herrscht Gänsehaut-Andächtigkeit, bekundet er seine „Solidarität mit den Bäumen, die Sie so wertgeschätzt haben“. Unter dem Jubel des Publikums beginnt er seinen Song „Anthem“, eine Hymne mit der leisen Bitte, nie aufzugeben: „Ja, die Kriege werden / Weiter gehen“, heißt es darin. „Die heilige Friedenstaube / Sie wird wieder eingefangen / Gekauft und verkauft / Und wieder gekauft werden / Sie wird nie frei sein … Läute die Glocken, die noch klingen.“

Ein Jahr später, beim ersten Gedenktag der S-21-Gegner an den Schwarzen Donnerstag mit Tausenden von Menschen im damals noch nicht gänzlich verwüsteten Schlossgarten am Bahnhof, singt die in Stuttgart lebende Amerikanerin Dacia Bridges zwei Songs von Leonard Cohen. Die Musikerin, damals hochschwanger, hat „Bird On The Wire“ und „Hallelujah“ zwei seiner berühmtesten Songs, ausgewählt.

Heute lebt die Sängerin wieder in ihrer Heimat. Nach Leonard Cohens Tod erreichte mich ihre SMS aus Michigan. Die Nacht war gelaufen. Ich setzte mich aufs Sofa und legte das Album „Live In London“ auf. Als „A Thousand Kisses Deep“ einsetzte, ging ich ans Fenster und schaute nach, ob im Garten der „Snowman“ steht. Es regnete in dieser Novembernacht, an die ich mich noch erinnern werde, wenn Graupelkörner den letzten Schneemann schon erledigt haben.

 

 

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