Bauers Depeschen


Samstag, 22. Oktober 2016, 1690. Depesche



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FLANEURSALON LIVE

> Sonntag, 11. Dezember: Flaneursalon in der Rosenau mit der Kabarettistin Christine Prayon und den Musikern Steve Bimamisa & Thabile, Toba Borke & Pheel. Beginn: 19 Uhr!

> 31. Dezember: 2 x Silvester-Flaneursalon im Theaterhaus: mit Stefan Hiss, Eva Leticia Padilla, Rolf Miller und Michael Gaedt. 1. Show um 19.15 Uhr, 2. Show um 21:15 Uhr. Der Vorverkauf hat bereits begonnen.

 

Die aktuelle StN-Kolumne:



KOMISCHES KORNTAL

Meine StN-Kolumne heißt „Joe Bauer in der Stadt“, aber keiner hat je festgelegt, welches Kaff damit eigentlich gemeint ist. Ich habe die Kolumne nicht so getauft, nur immer vermutet, es müsse um Stuttgart gehen, eine Gemeinde, die der Schriftsteller Friedrich Theodor Vischer mal mit den Worten würdigte: „Weltlosigkeit, Versessenheit, Stagnation, Hauptstadt im Kessel, können nicht oben hinausgucken.“ Vischers Hommage ist gerade mal 136 Jahre alt – in der Weltgeschichte weniger als ein Wimpernschlag.

Ich habe beschlossen, die Weltlosigkeit der „Hauptstadt“ öfter mal hinter mir zu lassen. Im heruntergekommenen, von der Versessenheit stagnierender Politiker zerstörten Bahnhof steige ich in die S-Bahn, durchbreche die Kesselwand und lande nach 13 Minuten in Korntal-Münchingen – einer Stadt mit fast 20 000 Einwohnern. Kein Zufallstrip, sondern so sorgfältig geplant, dass ich an der S-Bahn-Station, gleich neben der Fun Diving Tauchschule, von meinem alten Freund Roland Baisch mit dem Automobil abgeholt werde.

Herr Baisch ist bekannt als Komiker und Musiker – ein besessener Unterhalter. Zu wenig gewürdigt wird jedoch, dass er ein echter Korntaler ist, aufgewachsen in diesem geheimnisvollen Teilflecken mit gutbürgerlichen Wohnungen, ohne Bars und Wirtshäuser. Sein Urgroßvater Johann Karl Baisch ist in Korntal weltberühmt; ein Lehrerpionier, der im 19. Jahrhundert am Aufbau der Gemeinde mitgewirkt hat und wie viele andere nach Bessarabien ans Schwarze Meer auswanderte, wo er sich der Erziehungs- und Bildungsarbeit widmete. Rolands Vater wurde in Bessarabien geboren und kam als Kind nach Korntal. Ein Kapitel, das hier unmöglich aufgearbeitet werden kann: die Geschichte des Pietismus und der Sehnsucht lustabstinenter Missionare nach einer neuen Welt.

Da Roland Baisch die sechzig überschritten hat und die Pietistenhochburg Korntal erst vor knapp 200 Jahren gegründet wurde, kann er auf einen großen Teil Heimatgeschichte aus eigener Anschauung zurückblicken. Er ist ins selbe Gymnasium gegangen wie der heutige Brüsseler Digital-Missionar Günter Oettinger und dennoch ein anständiger Mensch geworden.

Die Jugenderinnerungen meines Freundes reduzieren sich keineswegs auf die ehemaligen Korntaler Jugendclubs Caligula und Minus, die streng getrennt waren nach den Glaubensrichtungen Kiffen und Disco. Ich erwähne sie, weil sie wahrscheinlich die wichtigsten Ausbildungsstätten neben den berühmten Korntaler Kinder-und Jugendheimen waren. (Das Hoffmannshaus der pietistischen Evangelischen Brüdergemeinde Korntal hat vor ein paar Jahren Schlagzeilen wegen der Kindesmisshandlungen in den sechziger, siebziger Jahren gemacht.)

Im Korntaler Flattichhaus wiederum, einem dem Hoffmannshaus angegliederten Kinder- und Jugendheim, hat von 1993 bis 2009 ein Mann gearbeitet, der auf den ersten Blick so gar nicht nach Korntal passen will, auf den zweiten aber wohl nirgendwo besser aufgehoben ist: ein Einwanderer, ausgebildeter Theologe, der vor ein paar Jahren den Beruf gewechselt hat und dann schnell bekannt wurde.

Der ehemalige Erzieher Stefan Waghubinger, 1966 im erzkatholischen Oberösterreich geboren, ist heute als Kabarettist in Deutschland, Österreich und der Schweiz unterwegs und regelmäßig im Fernsehen präsent. 2011 wurde er mit dem Bühnenpreis „Stuttgarter Besen“ ausgezeichnet.

Als er 2009 seine Heimarbeit mit nicht ganz einfachen jungen Menschen aufgibt, trennt er sich nicht im besten Einvernehmen von seinem pietistischen Dienstherrn. Er entspricht, das ahnt er, nicht mehr dem Bild des Christen, den sich sein Vorgesetzter ­vorstellt. Womöglich aber wäre Stefan Waghubinger ohne seinen Job im Heim, der seine sechsköpfige Familie in Korntal mehr schlecht als recht ernährte, nie im Satirefach gelandet. Zu feierlichen Anlässen hat er immer kleine Theaterstücke geschrieben – und die brachten oft lautere Lacher, als er beabsichtigt hatte. Komisch, sagt er, wurden diese Texte zwangsläufig durch den Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit bei der Erziehung junger Menschen. Das Korntaler Publikum nimmt ihm damals seine Ironie so wenig übel wie heute sein schwarzhumoriges Kabarett. Manchmal versprechen ihm Bekannte auf der Straße, ihn in ihr Gebet einzuschließen – nicht unbedingt, um ihn von seinen Humoristensünden zu befreien.

Seine ersten Versuche als Künstler macht er bei der „Open Stage“ in der Stuttgarter Rosenau; so lernt er Roland Baisch, den Moderator der Show, kennen. Dass sie enge Korntaler Nachbarn sind, merken sie erst, als sie in dieselbe S-Bahn steigen. Ich muss erwähnen, dass Herr Waghubinger bei unserem Gespräch an Roland Baischs Frühstückstisch, kurz vor der Fahrt zu einem Auftritt in der Schweiz, eine ungewöhnliche Ruhe und Offenheit ausstrahlt. Er erscheint mir keine Minute fremd, obwohl ich ihm zuvor nur selten begegnet bin.

Was für Erinnerungen, wenn er von seiner Kindheit erzählt. Wie er in einer kargen, oft eiskalten Wohnung am Radio sitzt, fasziniert von einer sonntäglichen Satiresendung zur Mittagszeit. Er versteht zwar nicht alle Bissigkeiten und Pointen des großen Helmut Qualtinger, spürt aber, dass ihm der Humor die Tür in eine andere Welt öffnet. Zu Hause herrscht damals Lachverbot: Sein Vater ist taubstumm und deutet Lachen oft falsch.

Zum Entsetzen seiner Umgebung konvertiert Stefan als junger Mensch zu den Protestanten, ehe er nach einer kaufmännischen Lehre eine interkonfessionelle Theologieausbildung an einem Baptistenseminar im Weserland beginnt. Stefan Waghubinger sagt, er sei Agnostiker. Einer, der heute mit seinem Gott auf der Kabarettbühne spricht – und merkt, dass Gott in vielen Orten nicht annähernd so populär ist wie in Korntal.

Und was habe ich in Korntal wieder mal gelernt? Bist du schon nicht in einer ­Weltstadt, dann suche die Welt in der Stadt. Es gibt viel zu tun.

 

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