Bauers DepeschenSamstag, 26. November 2016, 1704. DepescheMEINE KURZE DEMO-REDE beim Sit-in an diesem Samstag gegen den Abbau von Straßenbänken und die Vertreibung von Obdachlosen in der Königstraße findet man in der Depesche vom 27. November 2016 > Einige meiner Kolumnen kann man neuerdings auch StN online lesen - wenn man hier klickt: KOMMANDO MIETER RAUS! SCHMUDDEL-BANKETT IM SIEGLEHAUS Unser in diesem Sommer wetterbedingt ausgefallenes Schmuddel-Bankett im Leonhardsviertel wird jetzt nachgeholt - am Sonntag, 4. Dezember, im Foyer des Gustav-Siegle-Hauses. 11 Uhr bis 20 Uhr. Essen & Trinken, Denkanstöße & Der Spaziergang durchs Viertel. Es spielen mehrere Bands, darunter Freunde des Gitarristen Steve Bimamisa und der Weltmusik-Sängerin Hajnal sowie ein Quartett der Stuttgarter Philharmoniker. Wortbeiträge u. a. von Peter Grohmann und unsereins. Ein Tag in der Altstadt. EINTRITT FREI. Spenden erwünscht ... Flaneursalon live: MIT CHRISTINE PRAYON IN DER ROSENAU Liebe Gäste, "Die Nacht der Lieder" am 7./8. Dezember und die beiden Flaneursalon-Shows an Silvester im Theaterhaus sind bereits ausverkauft. Noch wenige Karten gibt es für Sonntag, 11. Dezember: Da ist Joe Bauers Flaneursalon in der Rosenau. Die Stuttgarter Lieder- und Geschichtenshow. Durch den Abend führt die famose Kabarettistin Christine Prayon. Musik machen der Gitarrist Steve Bimamisa und - erstmals - die südafrikanische Sängerin Thabilé sowie der Rapper Toba Borke & und der Beatboxer Pheel. Beginn: 19 Uhr! Karten im Vorverkauf gibt es hier: RESERVIX - oder Telefon: 01806/700733 Der Klick zum LIED DES TAGES Die aktuelle StN-Kolumne: AM NORDBAHNHOF Wieder war der Zufall mein Schrittmacher. Im Atelier im Bollwerk hatte ich Woody Allens Film „Café Society“ gesehen und mir einen Satz notiert, der beim Blick in die Wohnung einer jüdischen Familie fällt. Ein zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilter Gangster, Mitglied der skurrilen Familie, ist im Knast zum Christentum konvertiert, weil es in seinem Glauben kein Leben nach dem Tod gibt. Der Vater, mit Unterhemd bekleidet, sagt: „Ich habe keine Angst vor dem Tod.“ Seine Frau antwortet: „Du bist so dumm, dass du die Folgen nicht begreifst.“ Ich musste laut lachen. Vor der Vorstellung hat mir Harald Stingele von der Initiative Hotel Silber, im Kino einen Zettel in die Hand gedrückt, Hinweis auf einen Abend am Mittwoch, 30. November, in der Martinskirche am Nordbahnhof: „75 Jahre Deportation nach Riga“, mit einem Dokumentarfilm von Steffen Kayser und einer Lesung mit Liedern. Veranstalter sind die Anstifter und die Nordgemeinde Stuttgart (19.30 Uhr). Am Tag nach dem Kinobesuch treffe ich den Fotografen Lutz Schelhorn, auch als Präsident der Stuttgarter Hells Angels bekannt. Vor zehn Jahren, am 6. Dezember 2006, hat er in besagter Martinskirche mit dem heutigen Wagenhallen-Veranstalter Stefan Mellmann die Ausstellung „Chemie der Erinnerung“ eröffnet. Bis heute sind Schelhorns Fotos, etwas versteckt in der freien Natur, am Inneren Nordbahnhof gegenüber der Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“ auf Metalltafeln zu sehen: 20 Arbeiten, die entstanden, als die beiden Künstler Dias von den Gleisen und Prellböcken am Nordbahnhof in der Erde vergruben und sie etliche Wochen später auswerteten: bunte Bilder mit den gespenstischen Spuren der Eisenbahnstation. Von 1941 bis 1944 hat man auf dem ehemaligen Güterbahngelände 2600 Juden aus Stuttgart, Württemberg und Hohenzollern in die Vernichtungslager der Nazis deportiert und bis auf wenige Ausnahmen ermordet. Eine Tafel mit Texten des Stadtarchiv-Chefs Roland Müller informiert: „Am Morgen des 1. Dezember 1941 verließ der Zug den Inneren Nordbahnhof nach Riga. Nach drei Tagen und Nächten erreichten die Deportierten das Lager Jungfernhof, in dem ,die Menschen starben wie die Fliegen‘. Am 26. März 1942 erschossen SS- und Polizeiverbände über 1600 Menschen im Bikernieki-Wald, darunter viele der aus Stuttgart Verschleppten. Insgesamt überstanden rund zwei Dutzend Menschen alle Mordaktionen. Die zweite Deportation nach Izbica im Distrikt Lublin am 26. April 1942 überlebte keiner der 278 Deportierten.“ Schon am 27. November 1941 hatten die Nazis etwa tausend Menschen jüdischer Abstammung auf dem Killesberg in der „Ehrenhalle des Reichsnährstands“, 1939 für die Reichsgartenschau errichtet, für die Deportation „konzentriert“. Die Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“, im Sommer 2006 eröffnet, besuche ich regelmäßig. Ein Ort der Besinnung und gegen das Vergessen. Ich denke daran, wie oft uns die Geschichtslosen weismachen wollen, wir hätten das Recht zu vergessen: Alles so lange her, die Nazidiktatur, die Ermordung der Juden. Mehr als 71 Jahre ist der Krieg vorbei – Jahrzehnte, in denen es Stuttgart nicht fertig gebracht hat, das Hotel Silber, die ehemalige Gestapo-Zentrale, als Gedenk- und Lernort zu eröffnen. Das Gebäude, ein Ort der Folter und der Morde neben dem neuen Einkaufszentrum von Breuninger, wäre nach dem Willen der Politik längst plattgemacht, hätten nicht engagierte Bürger eingegriffen. Vermutlich können wir das Haus im kommenden Jahr besuchen. Wie nahe der Naziterror mit seinen vielen Spuren in der Stadt bis heute ist, begreifen wir, wenn wir sehen, wie hierzulande die Rechten marschieren, wie in den USA nach Trumps Wahlsieg Rechtsextreme „Sieg Heil“ rufen und den Arm zum Hitlergruß heben. Gedenkorte sind Brücken zur Gegenwart. Sie dienen nicht nur der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, sondern schärfen auch den Blick auf das Heute und Morgen. Es ist ein kalter Novembermorgen, als wir uns im Inneren Nordbahnhof treffen. Inga, eine Designstudentin aus Münster/Westfalen, macht Fotos für eine Arbeit an ihrer Hochschule. Der Fotograf Lutz Schelhorn hat in den vergangenen zehn Jahren immer wieder Schulklassen durch seine Ausstellung in dem von der Stadt als „Kulturschutzgebiet“ ausgeschilderten Gelände geführt. Die Begegnung mit einem Rocker motiviere die jungen Menschen eher für die Beschäftigung mit dem Thema als ein Museumsbesuch. Schelhorn erzählte ihnen, wie die Juden unter bestialischen Bedingungen in Waggons gepfercht und in die Vernichtungslager transportiert wurden. Solche Kapitel sind für junge Menschen nur am Tatort selbst halbwegs nachvollziehbar. Einige von Schelhorns Bildern sind inzwischen rissig, andere wurden beschmiert. Es grenzt an ein Wunder, dass die meisten noch relativ gut erhalten sind. Eine Überarbeitung käme teuer, würde sich aber lohnen. Der Fotograf will sich darum bemühen. Der Nordbahnhof, ein Quartier, in dem zurzeit günstige Mietwohnungen teuren Neubauten weichen müssen, ist das ungewöhnlichste Abenteuerrevier der Stadt. Wir verlassen die Kulisse des Naziterrors und gehen weiter – hinein in die Welt rund um die Wagenhallen, wo seit dem vergangenen Sommer ein Künstlerdorf mit zahlreichen Containern auf mehreren Stockwerken entstanden ist. Ein bizarrer Kosmos in vermeintlichem Chaos. Ich kann nur den Hut ziehen vor so viel schöpferischer Courage. Der Musikmann Moritz Finkbeiner (42), ein unermüdlicher Konzertmacher und Vernetzer, zeigt uns seinen neuen kleinen Show-Container namens Schachtel. Eine Bühne für Experimente, wie sie weit und breit nicht zu finden ist. Hinter solchen Freiräumen steckt eine trotzige Haltung, die etwas Mut macht angesichts des Ausverkaufs unserer Stadt, die sich nur noch dem Konsum verschreibt und kaum noch Platz lässt für Menschen ohne viel Geld. Damit endet mein kleiner Ausflug ins Novemberleben, der mit einem Kinobesuch und einem lustigen Satz über den Tod begonnen hat. |
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