Bauers DepeschenMontag, 05. Mai 2008, 143. DepescheDie Montagmitternachtsdepesche. Am Abend auf Discovery-Geschichte einen Film über Frank Sinatras Rat Pack gesehen. Diese unfassbare Mischung aus Leichtigkeit und Macht.Es fällt mir schwer, meinen Lebensrhythmus, das entsprechende Tempo zu halten. Zur Stabilisierung meiner Gangart trage ich im Moment ein Paar selbstgestrickte Socken. Ich habe zwei Paar selbstgestrickte Socken mit dem Etikett "Socken über Grenzen" als Gage von der Stiftung Geißstraße 7 für unseren Schwejk-Abend erhalten. Bei der heutigen Gagensituation sind zwei Paar selbstgestrickte Socken, eigentlich für Bosnien gefertigt, nicht zu verachten. Zurzeit kann ich noch nicht beurteilen, ob sie kratzen. Am Sonntag habe ich mir Speisequark aufs Haupt geschmiert: beim Auswärtsspiel der Stuttgarter Kickers in Reutlingen das Hirn verbrannt. Wir haben bei Sonne 1:3 verloren. Von den Toren habe ich wegen der schlechten Sichtverhältnisse im Stadion an der Kreuzeiche nichts mitgekriegt, dafür nach dem Spiel ungefähr 100 Bullen im Kampfmontur begrüßt. Die Damen und Herren und ihre verschlafenen Schäferhunde haben links und rechts des Straßenrands eine Menschenrechtskette gebildet, damit wir ein bisschen Schatten hatten, als wir vom Stadion an der Kreuzeiche zu unseren drei Fanbussen marschierten. Wir kamen sicher an und fuhren zügig nach Hause. Neben mir saß ein junger Diplomphysiker. Er beteiligte sich nicht am Singen. Ich hatte es eilig, weil ich am Abend noch zum Boxen in die Schleyerhalle musste. Der Cruiser-Weltmeister Firat Arslan lieferte gegen den Amerikaner Darnell Wilson einen präzisen, schnellen, kompromisslosen Kampf ohne Klammern. "Ding-A-Ling-Man" Wilson, der den lustigen Ding-A-Ling-Song für den Walk-in einspielen lässt, hatte technisch keine Chance, war aber mit seinen Überraschungshieben immer für einen Lucky Punch gut. Deshalb trotz Arslans Überlegenheit (klarer Punktsieg) ein spannender Fight. Seit vielen Jahren gehe ich zu Boxkämpfen, dieser Kampf war deutlich professioneller als die Art von Vorstellungen, wie man sie sonst auf dem Wasen beim Kirmesboxen und bei ARD und ZDF zu sehen bekommt. Herr Arslan aus Süßen bei Göppingen ist ein konsequenter, wenn auch kein brillanter Boxer. (Frauenboxen ist nichts für mich, Alesia Grafs Gegnerin hatte keine Ahnung vom Boxen.) Das Leben am Ring hat sich völlig verändert. Typen, Figuren, ich meine: Herren, reisen schon lange nicht mehr an. Man freut sich, wenigstens wieder mal Kalle aus St. Pauli am Seilgeviert zu sehen. Kalle, ein Schwarzer, der sich inzwischen juristisch erfolgreich gegen seinen einst rassistisch formulierten Spitznamen gewehrt hat, war früher eine Nummer auf dem Kiez. Von einer feindlichen Kugel im Bauch getroffen, hob er auf der Trage die Finger zum Victoryzeichen. Über Karl-Heinz "Kalle" Schwensen gibt es ein Theaterstück, es kam Ende der Neunziger am Bochumer Schauspiel heraus. Früher produzierten sich 50 Herren von Kalles Klasse und dazu einige sogenannte Showstars aus Deutschland mit passenden Damen am Ring. Heute reduziert sich das Star-Ambiente auf den zentnerschweren goldenen Boxhandschuh am Hals von René Weller, auf die Stuttgarter Ich-muss-gesehen-werden-Bürgermeisterin Doktor Eisenmann und ein paar Dutzend - ähnlich humorlose - Jahre Knast. Ich sollte nicht so viel Zeit für Sportveranstaltungen verschweden. Immerhin bin ich, Boxen = gut für Seele, am Morgen danach eine Dreiviertelstunde durch den Schlossgarten gelaufen. Ging gut und war wichtig nach meiner Angina-Pause. Ich muss immer wieder von vorn anfangen. Das Vonvornanfangen, der Fluch des ewigen Anfängers, ist inzwischen mein ganzes selbstgestricktes Bleib-auf-den-Socken-Rezept. So komme ich halbwegs unangekratzt über die Runden. P. S.: Da der nächste Flaneursalon mitten in den Pfingstferien stattfindet (20. Mai, Bix), müssen wir auf die Touristen verzichten. Ich appelliere deshalb an alle: Rettet die Heimat! (In den Stuttgarter Nachrichten finden Sie heute, am Montag, mein Porträt des Stadtteils Zuffenhausen - mit Fotos von Lutz Schelhorn.) „Kontakt“ |
Auswahl |