Bauers DepeschenSamstag, 29. März 2008, 131. Depesche![]() Heute vor einem Jahr, am 29. März 2007, ist die erste Depesche erschienen. Sie war kurz. Die erste habe ich, zuvor ziemlich bleich aus dem Krankenhaus entlassen, nach einem Besuch im Bad Berg geschrieben. Es war schon warm wie im Sommer. Jetzt da die Kickers bei blauem Himmel auf der Waldau ihren zweiten Heimsieg der Saison feierten, die Uhren auf Sommerzeit gestellt werden und die Hitze spätestens am Sonntag alles in den Schatten stellt, war ich wieder im Bad Berg. Und im Moment tippe ich die 131. Depesche zum ersten Depeschengeburtstag. ![]() "Sie haben sich gar nicht verändert." ![]() "Oh", sagte Herr K. und erbleichte. ![]() (B. Brecht) ![]() ![]() Ich denke in letzter Zeit immer wieder darüber nach, die Depeschen-Reihe einzustellen. Sie macht zu viel Arbeit, und über die Resonanz lässt sich nicht viel sagen. Selbst professionelle Blogger wissen: Die Netz-Kundschaft ist träge. Die will geräuschlos konsumieren. Außerdem: Die Flaneursalon-Veranstaltungen (neue Termine nächste Woche) kämen vermutlich ohne Begleitmusik von der Website aus. Es gibt ohnehin zu viele Daten: ![]() ![]() PARTY IN DER Ü-BAHN ![]() (modifizierte Fassung) ![]() ![]() Es schneite im späten März, auf den nassen Straßen spiegelten sich aufgeblasene Gesichter. Ein gutes Gefühl, wie ein Filmstar durch die Stadt zu gehen. An jeder Ecke Kameras, ganz Stuttgart im Casting-Fieber: der Überwachungsstaat Deutschland sucht den Superstar. ![]() Früher waren es hauptsächlich souvenirscharfe Japaner, die mit Fotoapparaten vor dem Bauch über den Schlossplatz gingen. Dann rückten popstarverliebte Kinder mit Handy-Kameras an. Heute haben sensationsgeile Polizisten in jedem Astloch eine Videokamera versteckt. Die Zugvögel, die gerade vom Urlaub aus dem Süden zurückkommen und denken, sie hätten kontrolltechnisch versehentlich Tibet angeflogen, fotografieren sich gegenseitig. ![]() Amsel, Drossel, Fink und Video-Star. Sie plustern sich auf wie Truthähne. Das haben sie den Menschen und Heribert Rech abgeschaut. Heribert ist Innenminister von Baden-Württemberg. Ihn kannte lange niemand. Dafür kennt er bald alle: Überall lässt er Kameras aufbauen und freut sich auf die Bilder wie sonst nur B-Promis bei "Verstehen Sie Spaß?". ![]() Auch in S-Bahnen und Stadtbahnen werden die toten Augen der Spione installiert. Was für schöne Abenteuerfilme lassen sich seit jeher auf Schienen drehen, besonders wenn die Züge hinausfahren in die betörende Weite von Backnang, Winnenden und Neugereut. Denken Sie an "Doktor Schiwago", "Mord im Orientexpress", "Todeszug nach Yuma". ![]() Die Bahn-Chefs werden ihre Streifen mit dem Soundtrack von Willi Nelson, Johnny Cash und Woody Guthrie unterlegen. Ihre Songs verstärken mein demokratisches Hochgefühl von unendlicher Freiheit. Seit Tagen stehe ich mit erhobener Faust im vordersten Waggon der S-Bahn und singe, bis der Arzt kommt: "Dies' Land ist dein Land / dies' Land ist mein Land / vom Hohenasperg bis nach Luginsla-a-nd." ![]() Rhythmisch nicht perfekt, aber egal. Rollst du erst mal im Rhythmus der Countrysongs über die Schwellen, wippen deine Stiefel im Takt der Lieder, dann weckst du mit dem bedrohlichen Schweigen Clint Eastwoods die Videospitzel des Rechtsstaats: Du bist ein Rail-Movie-Star. ![]() Das ist der neue Staat. Erfassung geht vor Verfassung. ![]() Was unterwegs gut läuft, funktioniert ebenso in Ruhestellung: Auch in Banken und Kaufhäusern hängen unauffällig Kameras. Vor allem Kaufhaus-Täter schlagen gut ein im Vorabendprogramm der Billigkrimis. Sie senken die Schauspielerkosten der Reality-Shows: Räuber, Taschendiebe, und Exhibitionisten werden aus dem richtigen Leben rekrutiert. Neulich feierte ein Spanner sensationelle Doppelpremiere: Der Kaschmirmantel, den er mit großer Geste und kleiner Wirkung vor seiner Wampe zurückschlug, war bei Breuninger gestohlen. Kaum ertappt, rechtfertigte er sich mit Sinn für freiheitlich-demokratische Gleichberechtigung: "In einem Land, in dem der gläserne Bürger rechtens ist", sagte er, "kann der Exhibitionist nicht Unrecht sein." Heribert, der schwarze Schirmherr des Unfugs, musste ihn laufen lassen. ![]() Probleme könnte die grenzübergreifende "Big Brother"-Nummer allerdings den Politikern selbst bescheren. Da neben Überwachungsbildern auch viele Daten von Karten und Pins gespeichert werden, dürfte die nächste außerbetriebliche Fortbildung für den Herrn Abgeordneten Folgen haben: Was ist, wenn die Ehefrau via Erpresserpost erfährt, dass der Gatte seine Platinkarte in die Ritschratsch-Box des neuen Freudenhauses auf den Fildern steckt? Die Dame nimmt die nächste Bahn und fährt zu ihrer Mutter - was der Herr Abgeordnete mit roten Ohren und vollen Hosen am Regiepult seiner Schmier-Trupps verfolgen kann. ![]() Nicht nur unsere gute alte U-Ebene wird zur Ü-Ebene: Es ist Party im Überwachungsexpress. Das neue Deutschland sucht den Stasi-Superstar. ![]() ![]() „Kontakt“ ![]() ![]() ![]() |
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