Bauers DepeschenSamstag, 26. April 2008, 140. DepescheGedanken können fliegen, das ist wahr. Die Gedanken sind in einen Suppentopf voller Hühnerbrühe mit Ingwer geflogen. Das bedeutet: Mandelentzündung und Fieber, Antibiotika und Auszeit.Besuch im Minderalbad Berg gestrichen, Besuch des Kickers-Spiels gestrichen, das ganze Leben gestrichen: sensationellen 5:1-Sieg gegen den VfR Aalen verpasst. Mein Kollege George der Grieche hielt mich während des Spiels per SMS auf dem Laufenden, nach dem Schlusspfiff meldete sich Schlesinger-Tschelle: "Rock 'n' Roll! So ein Spiel hat man in Degerloch seit Jahren nicht gesehen." Schande. Jammern ist eine abscheuliche Eigenschaft, wird Frau Mirjam mit jott sagen, also ziehe ich mich schweigend zurück auf mein Lager und sterbe. Weil bald 1. Mai ist, fällt mir eine alte Geschichte ein: DER VERRAT Es war Zufall, dass der amerikanische Country-Rocker Steve Earle "The Revolution Starts Now" sang, als ich am 1. Mai mein Frühstücksei köpfte. Die Scheibe hatte schon seit Tagen in meinem CD-Player gelegen. Ich beeilte mich zu verschwinden und ging zur Erster-Mai-Demo auf den Karlsplatz. Als ich ankam, marschierten die Gewerkschaftstrommler auf. Sie trugen schwarze und rote Klamotten, ihr Cheftrommler auch schwarz-rote Handschuhe, als sei er Gesandter der großen Koalition. "Es gibt Arbeit genug", skandierte er, "es gibt Arbeit genug." Alle stimmten ein. Es war Feiertag. Ich hörte dem Eröffnungsredner zu, er trug wie viele Männer an diesem Morgen Kinn- und Schnurrbart. Der Eröffnungsredner hatte Probleme, weil vor der Bühne viele Kinder aus vielen Nationen spielten und babylonisch dazwischen quasselten. Er sagte, man gehöre hier nicht zur Schickeria, die bei anderen Feiern auf dem Karlsplatz Fingerfood und Champagner konsumiere. Im Hintergrund des Demo-Geländes bot ein Wagen mit Esslinger Autonummer alternativ "das internationale Mega-Getränk-Sortiment" feil. Ein Mann mit Schildern auf Bauch und Rücken lief an mir vorbei, ich hatte Mühe, den Text zu lesen: "Dank CDU und SPD geht der Sozialstaat endlich heeh". Aus Rücksicht auf das internationale Publikum hatte er hinter "heeh" in Klammern "kaputt" geschrieben. Ich hörte noch einen schwarz gekleideten Irokesen "Demo gegen Demo" rufen, dann wurde ich sentimental. Am Morgen, als ich Steve Earle gehört hatte, zog ich ein Fischer-Taschenbuch des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt aus dem Regal, es ist 1973 unter dem Titel "Stories für uns" erschienen - und erinnert mich an eine böse Geschichte. Ich war 18, als ich beim Dorftanz in den Mai Lotte kennen lernte. Ich ging zu jedem Dorftanz. Aber ich tanzte nie. Ich war allein und sah einsam aus, und ich wartete darauf, bis mich ein Mädchen fragte, warum ich allein sei und einsam und nicht tanze. Tough guys never dance, sagte ich. So war das. Mit dieser Nummer ließ sich ganz gut leben. Lotte kam auf mich zu und fragte, warum ich nicht tanze. Warum Eltern ihre Töchter Charlotte tauften, wenn sie später doch nur Lotte hießen, fragte ich zurück. Lotte fragte, ob ich am nächsten Morgen zur Mai-Demo in die benachbarte Kreisstadt käme. Ja, sagte ich, Ehrensache. Von Beruf war ich damals Schulschwänzer und jederzeit bereit, mich der internationalen Arbeiterbewegung anzuschließen. Auch Lotte war keine Arbeiterin, nur öfter in der Schule als ich. Was zählte, waren Solidarität und Selbstlosigkeit, auch weil damals die Mädchen der Marxisten-Leninisten selten so attraktiv waren wie heute die Damen der Irokesen. Beim Tanz in den Mai gab es schon 1973 keine Polizeistunde. Dörfer sind seit jeher Zentren der Anarchie. Dennoch bin ich mir heute sicher, dass ich in dieser Nacht Lotte zwar näher, es aber nicht zum Äußersten kam. Sie ging mit einem schnellen Kuss und meinem Ehrenwort, am nächsten Morgen pünktlich bei der Demo zu sein. Der Tanz in den Mai ging weiter. Ich war wieder allein, und ich wurde müde. Meine Harte-Männer-tanzen-nicht-Nummer funktionierte in der Regel höchstens einmal pro Nacht. Als ich mich schließlich aufraffte, trotz gehöriger Textlücken "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" anzustimmen, stand die rote Sonne schon hoch am Himmel über der Dorfturnhalle. Ich schleppte mich nach Hause, schlich die Treppe zu meinem Zimmer hoch, ohne dass es meine Eltern bemerkten. Ich zog mich geräuschlos aus, das glaubte ich jedenfalls, und lag bereits im Bett, als meine Mutter rief, ich müsse ans Telefon. Es war Lotte. Sie fragte, wo ich bliebe. "Ich warte auf dich", sagte sie, "wir haben was ausgemacht." Mir wurde schlecht. "Ich kann nicht kommen", sagte ich. "Warum nicht?", fragte Lotte. "Ich bin", stammelte ich und hörte wie von Ferne meine heisere Stimme, "ich bin... verheiratet." Die Revolution war verraten, die Liebe mit Lotte vorbei und ich bis heute kein einziges Mal verheiratet. „Kontakt“ |
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