Bauers DepeschenMittwoch, 16. September 2009, 378. DepescheBETR.: FUSSBALL, CCCP Die Champions League hat begonnen, das erinnert mich an eine Geschichte: DER SCHWEIGER Begegnung mit dem Trainer Waleri Lobanowski Er hatte im Frühjahr 1999 gesichtsmäßig stramm zugenommen, seit damals, als seine Spieler noch in den Trikots mit dem legendären Logo “CCCP” auf den Rasen gingen. Womöglich war aber auch der russische Wodka nicht mehr das, was er früher war. Waleri Lobonowski, der Trainer von Dynamo Kiew, war ein Fußballfachmann, den keiner vergisst, der ihm je begegnet ist. Als sein Team im April 1999 in der Champions League gegen die Bayern antrat, saß er mit verquollenen Augen und gewohnt regungsloser Miene auf der Bank. Ich fieberte am Fernseher still mit ihm. Hätte gerne gewusst, welche Gedankenspiele das russische Pokerface wegblendete, als die Glücksritter aus München in der letzten Minute den Ausgleich zum 3:3 schossen. Elf Jahre zuvor, im Juni 1988, hatte Lobanowski mit dem Nationalteam der UdSSR in der Sportschule Ruit nahe Stuttgart Quartier bezogen. Die Bundesrepublik war Schauplatz der Fußball-Europameisterschaft. Die internationalen Reporter schlichen mit einer Mischung aus Neugier und Säuernis durchs Sowjet-Lager. Lobanowski empfing zwar regelmäßig Journalisten (die in den Kellern des Camps nicht nur Aufzeichnungen über geheimnisvolle Fußball-Taktiken, sondern auch ein Warenlager mit brandneuen TV- und Video-Geräten vemuteten). Er erteilte den Reportern aber stets eine Lektion in Schweigen und Erhabenheit. Die Frage, warum man keinenseinerStars interviewen dürfe, konterte er mit dem wasserdichtem Argument : „Meine Spieler stehen gerade unter der Dusche.“ In den Zeitungen wurde das Ruiter EM-Quartier in kalter Kriegsmanier nur noch “Kaserne” genannt. Das war merkwürdig. In der UdSSR regierte Gorbatschow. Glasnost und Prestroika waren die politischen Schlagworte des zu Ende gehenden Jahrzehnts. Die Yuppies lehnten in “CCCP”-Shirts an den Tresen derr Cocktail-Bars. Keine anderthalb Jahre später sollte die Berliner Mauer fallen. Einmal, nachdem ich in Ruit Lobanoskis Pflichtauftritt vor der Presse beobachtet hatte, notierte ich in der Zeitung: „Das Einzige, was uns der CCCP-Coach in der Öffentlichkeit preisgibt, sind seine nackten Waden zwischen Shorts und Socken.“ Das war ein Fehler. Anderntags zog er mir vor versammelter Mannschaft in der Pressekonferenz die Hosen stramm. Es sei typische kapitalistische Dummheit, Menschen nach ihrem Äußeren zu beurteilen, sagte er. Seitdem hatte ich großen Respekt vor ihm. Das UdSSR-Tam wurde bei der EM 1988 mit ähnlicher Arroganz behandelt wie elf Jahre später Dynamo Kiew von den Bayern. Die Sowjets, urteilte Franz Beckenbauer bei der EM, würden “Fußball wie vor zwanzig Jahren” spielen. Wenig später standen sie im Halbfinale gegen Italien. Diese Partie fand im Stuttgarter Neckarstadion statt. Die Squadra Azzura, mit Superstars wie Baresi, Vialli und Donadoni, wurde an diesem Abend dermaßen an die Wand gespielt, dass auch die Tifosi den Sowjets stehend Szenenapplaus spendeten. Lobanowskis Mannschaft gewann 2:0 und zelebrierte Fußball wie von einem anderen Stern. Es war eine Art Revolution auf dem Rasen. Am Morgen danach brach der Trainer vor der Presse sein Schweigen. Es war die Stunde des Siegers. In einem langen Vortrag, wie man ihn sonst eher von Fidel Castro kannte, erklärte er das “Kampfspiel Fußball”. Er zitierte den Schriftsteller Boris Pasternak, er verglich seine Arbeit mit dem Schaffen von Theaterregisseuren und zeigte sich als überlegener Taktiker und Philosoph. Ähnlich detaillierte Analysen hatte man zuvor nur von wissenschaftlich geschulten Football- oder Basketball-Trainern in den USA gehört. Nach dem Zweizunull der Sowjets gegen die Italiener gab es keinen Zweifel: Ich hatte die Zukunft des Fußballs gesehen. Die Niederlage der Sowjets gegen Holland im Endspiel änderte nichts an dieser Sicht. Lobanowski sagte später, er habe in der Ruiter Kaserne am “universellen System” des Fußballs gebastelt. Der Kosmos aber ist kleiner, als man denkt. Hinter der Niederlage der Italiener gegen die Sowjet steckte außer Lobanowskis genialen Schachzügen ein Geheimnis, das erst Jahre später gelüftet werden sollte. Vor dem Stuttgarter Halbfinale hatten sich die Stars aus Italien einer nächtlichen Speziabehandlung unterzogen. Die Sowjets hatten diesmal die Finger nicht im Spiel. Dafür die Damen der bis zum heutigen Tag berühmten Rotlichtbar Café Weiß. Doch das ist eine andere Geschichte. Waleri Lobanowski ist im Mai 2002 an Herzversagen gestorben. Er wurde 63 Jahre alt. Der Fußball hat einen guten Mann verloren. REKLAME: Joe Bauers Flaneursalon mit Buchpräsentation am Donnerstag, 22. Oktober, 20.15 Uhr: www.theaterhaus.com - Telefon: (0711) 4 02 07 20 Kolumnen in den Stuttgarter Nachrichten „Kontakt“ |
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