Bauers Depeschen


Montag, 07. September 2009, 374. Depesche



BETR.: SEPTEMBER



HERBST, HAUPTBAHNHOF



Der Herbst kommt, was heißt das schon. Ein alter Wirtshausvers, vom Dichter Peter Rühmkorf in seinem Buch ''Über das Volksvermögen'' verewigt, fällt mir ein: „Elke, wenn ich dich melke / bist du welke / wie eine Nelke.“

Nicht so ästhetisch wie Rainer Maria Rilke, der den Herbst ''Schatten auf die Sonnenuhren'' legen ließ, aber ich sagte mir: Halt die Zeit an, bevor die Welt welkt. Reime auf Elke kann ich mir besser merken als Rilke.

Gestern Morgen, als die silbergrauen Nadelstreifen des Altweibersommers aus den Gärten verschwunden waren, fuhr ich mit dem Bus zum Bahnhof. Wollte schauen, wo der Herbst ankommt.

Ich war mir sicher, er würde kommen. Zuvor war kein Tag vergangen, an dem ich nicht etwas über den Herbst gelesen hatte. Über die Ernte an sich und die Weinernte sowieso. Es war klar, dass der Herbst vor der Tür stand oder auf einem Bahnsteig am Bahnhof. Unwahrscheinlich, dass er mit dem Flugzeug kommen könnte. Ein Flugzeug würde nicht zu ihm passen: zu laut, zu auffällig, zu schnell. Einen Moment lang dachte ich, der Herbst könnte mit dem Taxi anreisen, mit einem Daimler vom Stuttgarter Casino, wo ein Mann gerade dabei war, den Sommer seines Lebens zu verzocken.

Ich kenne mich aus mit dem Herbst, ich weiß, dass es Herbst wird, wenn die Fliegen sterben. Und selbstverständlich weiß ich, dass auch ich den Sommer meines Lebens, wie Karl May es uns gelehrt hat, überschritten habe. Die Nelke im Knopfloch wird welke und das Kopfloch größer. Es gibt Tage, an denen ich vergesse, dass es Herbst geworden ist. Dann spiele ich Sommer, als sei nichts geschehen und die letzte Schnake des Sommers noch im Anflug, bereit für ihren letzten Stich am Spieltisch des Lebens.

Das klingt kitschig, meinetwegen, aber es ist erregend, mit einer welken Nelke am Stuttgarter Bahnhof zu stehen und auf den Herbst zu warten, als sei er eine Dame und heiße Elke. Ich müsste nur den richtigen Bahnsteig erwischen, der Rest wäre ein Kinderspiel.

Um 8.25 Uhr fuhr ein Zug aus Vaihingen/Enz in den Hauptbahnhof ein. Nein, dachte ich, der Herbst kommt nicht aus Vaihingen/Enz, niemals, so farblos ist der Herbst nicht. Vielleicht um 8.14 Uhr aus Waiblingen? Oder um 8.23 Uhr aus Tübingen?

Das kann nicht sein. Keiner, den je ein Dichter beschrieben hat, kommt mit dem Zug aus Vaihingen/Enz oder aus Waiblingen in Stuttgart an. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder käme der Herbst standesgemäß um 12.49 Uhr vom Paris-Est oder um 13.58 Uhr vom Milano Centrale oder überhaupt nicht mehr, weil schon Winter war.

Herbst, dachte ich, ich habe keine Lust, auf dich zu warten. Ich ging rüber zu Karstadt, kaufte mir einen kleinen elektrischen Ofen und ging nach Hause.

Elke würde schon wissen, wo es warm ist, wenn der Winter kommt.



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