Bauers DepeschenMontag, 20. August 2018, 1998. Depesche20 JAHRE FLANEURSALON Sonntag, 21. Oktober, 19 Uhr. Die Jubiläums-Show im Gustav-Siegle-Haus, wo 1998 alles anfing. Durch den Abend führt der Berliner Kabarettist Arnulf Rating. Auf der Bühne: Rolf Miller, Thabilé & Band mit Jens-Peter Abele, Roland Baisch & Michael Gaedt, Stefan Hiss, Toba & Pheel. Spezialgast: Nero Friktschn Feuerherdt. Mit der Buchvorstellung: „Im Staub von Stuttgart“. Eine Veranstaltung in Kooperation mit den Stuttgarter Philharmonikern und der Rosenau. KARTEN: EASY TICKET Telefon: 0711 / 2 555 555 LIEBE GÄSTE, von heute an gibt es wieder frische, nur leicht zeitverzögerte Kolumnen. Hört die Signale! DAS LIED ZUM TAG StN-Kolumne vom 14. August ANSICHTEN EINES FAULENZERS Zwei Wochen Ferien vorbei – und wieder nichts geschafft. Wenn mich die internationale Zeitgeistpresse richtig informiert hat, sind Erholung oder gar Nichtstun im Urlaub neuerdings voll altmodisch. Der Zeitgeist hält es – wie wir Trendscouts sagen – für okayer, Freizeit grundsätzlich für Kreativ-Maloche zu nutzen: einen Film über den schöpferischen Urtrieb des Ferienmenschen zu drehen, eine Fahrraddrohne gegen das Stuttgarter Klima zu bauen oder Pfefferminze neben Mülleimern zu pflanzen. Unsereins wird da nicht mitmachen. Hoch lebe der Faulenzer. Ich habe ein paar Tage in einem Holzhaus über dem Wasser verbracht. Wenn ein Schiff vorbeifuhr, hat der ganze Laden gewackelt. Kam mir vor wie Huckleberry Finn und dachte lange über die richtigen Strategien nach, Heerscharen von Stechmücken abzuwehren. Nachts hielten mich zum Glück die schönen Balkanlieder unsichtbarer Uferpartys wach, was einige Mücken das Leben kostete, ehe ich am Morgen meine Siegfried-Blößen mit Fenistil-Salbe versorgte. Eine Woche war ich in Belgrad an der Donau und unternahm auch Ausflüge zur Save, dem anderen Fluss, ehe ich weiterzog in das eine Busstunde entfernte Novi Sad, wo der Donaustrand zum Planschen, fast wie im Deutschen, „Štrand“ heißt. Beide Städte wurden vor erst 19 Jahren von der Nato bombardiert und blicken zurück auf eine lange Geschichte voller Kriegsverbrechen und Tragödien, die man auch im härtesten Arbeitsurlaub nicht aufarbeiten könnte. Mein Plan war, am Fluss abzuhängen. Nein, nicht die Seele baumeln zu lassen. Seit jeher erinnert mich diese Floskel an den Selbstmord eines Müßiggängers mit dem Strick, weshalb ich mich damit begnügt habe, an der Donau die Beine auszustrecken und die Arme zu verschränken. Zu Hause bekommt es die Politik ja nicht hin, ihren Fluss als Teil der Stadt und deren Menschen zu behandeln. Wie so oft bei meinen Ausflügen war auch Belgrad ein eher zufälliges Ziel. Anderthalb Stunden im Flugzeug von Stuttgart in die serbische Hauptstadt sind nicht anstrengender als mit der Straßenbahn von Zuffenhausen nach Sillenbuch. Du lernst bei solchen Kurztrips, dass Europa oft genug ein Katzensprungkontinent ist, mit wachrüttelnden, dir heute nicht mehr allzu fremden Kulturen voller Gemeinsamkeiten. Und die Sprache? Hello, thank you, Deichmann, dm, C&A. Der Rest ergibt sich. Aufgrund meines Jobs ist der Tick, überall Spuren zu sehen, die in die sogenannte Heimatstadt führen, naturgemäß unnatürlich ausgeprägt. Andrerseits sind die Zeichen gegenwärtiger kapitalistischer Stadtpolitik zum Nachteil aller nicht Wohlhabenden frappierend ähnlich. In Belgrad, mit 1,2 Millionen Einwohnern doppelt so groß wie Stuttgart, wird zurzeit gegen den Protest vieler Menschen und begleitet von politischen Skandalen das Immobiliengroßprojekt Belgrade Waterfront (BW) durchgezogen. Geld kommt aus den Emiraten, den Großteil der veranschlagten 3,1 Milliarden aber muss der Steuerzahler leisten. Für die neue Stadt in der Stadt mit ihren für die Reichen gut gesicherten Hochhäusern und Einkaufszentren wurden Hunderte von Arbeiterfamilien umgesiedelt oder verdrängt. In der Nähe des Hafens hat man den alten Bahnhof Beograd-Glavna im vergangenen Juli stillgelegt, der neue Beograd Centar wurde vor zweieinhalb Jahren eingeweiht. Opfer der Bauwut und der illegalen, teils brutalen Abrissaktionen und Vertreibungen wurden auch Künstler, die sich in alten Gemäuern und Waggons eingenistet hatten. Wo Künstler sind, muss man nie lange auf die Investoren warten. Der Begriff „Gentrifizierung“ für Zerstörungsakte in der Ära 21 klingt heute ziemlich verharmlosend. Für meinen Gang über das Baugelände brauchte ich eine Dreiviertelstunde. Städte, in denen Neu und Alt, Hässlichkeit und Schönheit, Zerstörung und Natur so heftig aufeinandertreffen wie in der serbischen Metropole mit ihrem ausschweifenden Clubleben, strahlen trotz oder auch wegen aller Ungerechtigkeiten eine ungeheure Energie aus. Mein Hirn scheint in der Hitze der Stadt laut zu rattern, auch wenn ich in Wahrheit nur den Sound meines abgewrackten Linienbusses höre, bevor ich in eine nagelneue Straßenbahn aus der Schweiz umsteige; in ihren Wagen kleben noch die deutsch beschrifteten Warnschilder aus dem Herstellerland: Fürs Schwarzfahren wirst du zu 100 Franken verknackt. Für einen Touristen wie mich ist Belgrad ein kleines Abenteuer. Wildes, lautes, dennoch wohltuendes Großstadtgetöse. Überall treffe ich auf freundliche, hilfsbereite Menschen. Das übliche Geschwätz von der „gefährlichen“ Stadt, das ich zuvor gehört habe, betrifft vorzugsweise Männer aus Mafia-Familien, unter deren Schutz ich nicht stehe. Verpasst in meinen Ferien habe ich zu Hause leider zum Saisonauftakt der fünften Liga das wegweisende Nullnull der Kickers gegen Nöttingen. Dafür habe ich, Ehrensache, Titos Mausoleum besucht. Und als ich dann, zurück im Kessel, am Sonntag über das Stadtpalais-Gelände spaziere und die Planschbecken des Provinzrummels „Stuttgart am Meer“ sehe, schwant mir beim Blick auf unsere mondäne Ozeanstadt Schlimmes: Vermutlich werden demnächst die Rechtsnationalen die Regierung auffordern, den Kessel von Frontex-Truppen umstellen zu lassen. Ich flüchte unterdessen an den Neckar, lasse irgendwas baumeln und denke mir eine anständige Arbeit für den nächsten Urlaub aus. |
Auswahl |