Bauers Depeschen


Freitag, 27. Juli 2018, 1989. Depesche



 



MICHAEL WILK HEUTE IM WKV

Der Frankfurter Arzt, Autor und Aktivist Dr. Michael Wilk, der am Samstag bei unserer Kundgebung „Leben retten ist kein Verbrechen“ auf dem Stuttgarter Schlossplatz eine sehr eindrucksvolle Rede gehalten hat, ist an diesem Freitag Gast einer Veranstaltung über Syrien im Württembergischen Kunstverein. Beginn 19 Uhr. Michael Wilk ist seit 2014 regelmäßig in Nordsyrien als Notarzt im Einsatz.



VORVERKAUF LÄUFT:

20 JAHRE JOE BAUERS FLANEURSALON

Sonntag, 21. Oktober, 19 Uhr.

Die Jubiläums-Show im Gustav-Siegle-Haus, wo alles anfing.

Durch den Abend führt der Berliner Kabarettist Arnulf Rating. Auf der Bühne: Rolf Miller, Thabilé & Band mit Jens-Peter Abele, Roland Baisch & Michael Gaedt, Stefan Hiss, Toba & Pheel. Spezialgast: Nero Friktschn Feuerherdt.

Mit der Buchvorstellung: „Im Staub von Stuttgart“.

Eine Veranstaltung in Kooperation mit den Stuttgarter Philharmonikern und der Rosenau.

KARTEN: EASY TICKET - Telefon: 0711 / 2 555 555



Hört die Signale!

DAS LIED ZUM TAG



StN-Kolumne vom 21. 7. 2018

DiESE VERDAMMTEN ZAHLEN

Es war Neckarwetter, die Sonne führte mich an den Fluss. Du kommst überall schnell an jeden Ort in unserer kleinen Stadt, auch wenn sich das bis heute nicht herumgesprochen hat. Vor allem nicht im Rathaus, wo viele an einer Krankheit namens Zentralitis leiden.

Deutlich zu spüren ist das in der Diskussion über Kulturmeile und Interimsoper. Als müssten alle Bühnen und Museen in die Stadtmitte gepresst werden, um nicht übersehen zu werden. Dahinter steckt provinzielle Engstirnigkeit, ein antiquierter Stadt- und Kulturbegriff, der besonders in einem Kessel Schaden anrichtet. Der Scheuklappenblick aufs Zentrum und die Trampel­pfade des Konsums blenden Stuttgarts topografische Einzigartigkeit ebenso aus wie die Möglichkeiten abseits des vom Verkehr zerstörten Stadtkerns. Bestes Beispiel dafür war der kleinkarierte Streit um das alte Paketpostamt im Rosensteinpark. Was könnte man aus diesem Gelände machen. Ein zukunft­weisendes Experimentierfeld für verschieden Künste, offen für Tradition und Gegenwart – nur Minuten vom Zentrum entfernt. Stattdessen nehmen die Experten im Rathaus, darunter der OB, das Züblinparkhaus im Leonhardsviertel ins Visier. Der Bau wird 2023 abgerissen und soll womöglich der Interimsoper Platz machen.

Adieu Stadtmitte, die Keilerei um Prestigebauten mitten in der Wohnungsnot wirbelt nur noch mehr giftigen Staub auf. In einer Viertelstunde fährst du mit der Linie 12 oder 14 vom Zentrum in Richtung Mühlhausen zur Haltestelle Wagrainäcker beim Max-Eyth-See. Über den Max-Eyth-Steg, diese hinreißende Hängebrücke, ans linke Neckarufer, wo die Weinberge ansteigen. Ich muss dort nachschauen, was mit der Gaststätte Keefertal geschieht.

Das einzige Lokal auf Stuttgarter Gebiet, wo du am Neckarufer direkt am Wasser sitzen kannst, ist benannt nach dem Fischer Emil Keefer, der nach dem Zweiten Weltkrieg eine Holzhütte für die Schützengesellschaft baute. Nach längerer Schließzeit gehört das Gasthaus inzwischen einer Firma mit dem knackigen Namen CT Corporate Travel & Events Cool-Tours GmbH & Co. KG.

Auf Plakaten am Haus ist zu lesen, was mit dem Keefertal passieren soll: „An Ostern 2019 eröffnet hier die neue Riverhouse-Location mit Riverbeach und dem Riverboat-Bootsverleih für alle.“ Gruppen, heißt es weiter, könnten das Haus nach dem Umbau schon im Herbst kommenden Jahres für „Events, Teambuildings“ und Ähnliches buchen.

Dieselbe Firma hat gegenüber auch das Vereinslokal Eintracht Frohsinn über­nommen. Es heißt jetzt „Riverview-Weinberghaus“. Der Neckar bei Hofen wird also voll ein River mit Riverhouse, Riverbeach, Riverboats und Riverview – und deshalb weltweit leichter zu finden sein. Mein Riverview (Blick auf den Fluss) hat sich bei meinem Keefertal-Ausflug international erweitert, zügig bin ich weitergezogen zum Neckarhafen, der in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag feiert.

Den Pier für die Party erreicht man von der Stadtmitte mit der Straßenbahn über Hedelfingen; die Festplätze liegen zwischen Otto-Konz-Brücke und Otto-Hirsch-Brücken – zwei Namen, die uns erzählen, weshalb Geschichte immer auch Gegenwart ist.

Der Ingenieur Otto Konz (1875 bis 1965) gilt als einer der Väter des Neckarkanals. Ende der dreißiger Jahre wurde er wegen seiner jüdischen Frau Antonie, geborene Weißenburger, von den Nazis angefeindet und verfolgt. Er hielt zu seiner Frau und legte 1937 unter großem Druck sein Amt in der Neckarbaudirektion nieder. Nach dem Krieg kehrte er in verantwortlicher Position in den Kanalbau zurück.

Sein Vorstandskollege bei der Neckar AG, der Jurist Otto Hirsch, war ebenfalls ein großer Pionier der Wasserstraße – und musste als Jude nach der Machtergreifung der Nazis seinen Posten niederlegen. Er zog nach Berlin und gründete die Reichsvertretung deutscher Juden.

Sein Schicksal bewegt gerade in diesen Tagen – nicht nur aufgrund des historischen Datums: Vor 80 Jahren, vom 6. bis zum 15. Juli 1938, fand auf französischer Seite am Genfer See die berühmte Konferenz von Evian statt.

Auf Initiative des US-Präsidenten Roosevelt diskutierten Delegierte von 32 Nationen die ansteigenden Zahlen der aus Deutschland und Österreich vertriebenen Juden. Die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, war erschreckend gering, die Heuchelei umso größer. Nur die Dominikanische Republik und Costa Rica signalisierten Hilfe.

Otto Hirsch berichtete als Vertreter der deutschen Juden über die Konferenz: „Ich hatte Lust aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten ‚Zahlen‘ menschliche Wesen sind? Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt? Damals konnte ich natürlich noch gar nicht wissen, dass den Flüchtlingen, die niemand wollte, nicht nur Konzentrationslager, sondern der Tod in Vernichtungs­lagern drohte.“

Otto Hirsch, 1885 in Stuttgart geboren, wurde am 19. Juni 1941 im KZ Mauthausen ermordet.

Ein Spaziergang über die nach ihm benannten Brücken führt mir, wie könnte es anders sein, den politischen  Umgang mit Geflüchteten in diesen Tagen bei uns vor Augen. Mit Otto Hirsch möchte man schreien: Begreift endlich, dass diese verdammten Zahlen menschliche Wesen sind.





 

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