Bauers Depeschen


Sonntag, 22. Juli 2018, 1986. Depesche



 



VORVERKAUF LÄUFT:

20 JAHRE FLANEURSALON

Sonntag, 21. Oktober, 19 Uhr.

Die Jubiläums-Show im Gustav-Siegle-Haus, wo 1998 alles anfing. Durch den Abend führt der Berliner Kabarettist Arnulf Rating. Auf der Bühne: Rolf Miller, Thabilé & Band mit Jens-Peter Abele, Roland Baisch & Michael Gaedt, Stefan Hiss, Toba & Pheel. Spezialgast: Nero Friktschn Feuerherdt.

Mit der Buchvorstellung: „Im Staub von Stuttgart“.

Eine Veranstaltung in Kooperation mit den Stuttgarter Philharmonikern und der Rosenau.

KARTEN: EASY TICKET -

Telefon: 0711 / 2 555 555



StN-Kolumne vom 14. Juli

LETZTE AUSFAHRT SCHNARRENBERG

Wenn ich richtig informiert bin, leben in Stuttgart 3000 Franzosen und 13 000 Kroaten. Auch wenn die sich nicht alle für die doch recht populären Großturniere des Fußballsports begeistern, könnte es am Sonntagabend nach dem WM-Endspiel zwischen den Teams der beiden Länder im Kessel etwas laut und launig zugehen.

Ich will mich nicht einmischen in die Angelegenheiten internationaler Mit­menschen. Meine Parteilichkeit hält sich in Grenzen. Die „Marseillaise“ kann ich nicht mitsingen, weil meine Textsicherheit nach der ersten Zeile kläglich endet. Und das faschistische Liedgut, das kroatische Spieler in ihrer Kabine gesungen haben, betrachte ich generell als Zeichen des Nationalismus und Rechtsrucks in Europa, wo die Seenotrettung von Menschen auf der Flucht unter dem Beifall des deutschen Heimatministers kriminalisiert wird.

Der argentinische Ex-Nationalspieler, Manager und große Fußballpoet Jorge Valdano hat einmal geschrieben, die Integrationsfähigkeit des Fußballs werde pervertiert, wenn der Fanatismus, „das gefährlichste Nebenprodukt der Intoleranz“, aus dem Spiel „eine Frage der Ehre“ mache. Wenn ein Trikot die Bedeutung eines „Vaterlands“ erhalte.

Der populäre, aus Bad Urach stammende Politiker Cem Özdemir hat gerade in einem „Zeit“-Artikel den Umgang der DFB-Spitze mit dem Spieler Özil scharf krititiert. Man habe Özil nicht davor geschützt, nach seiner Foto-Affäre mit dem türkischen Präsidenten Erdogan als Sündenbock ab­gestempelt zu werden. Dieses Argument ist hinlänglich bekannt und nachvollziehbar. Es kommt allerdings von einem Politiker, der vor der WM herumposaunte, er sei „stolz“ auf die deutsche Nationalmannschaft. Wer Stolz empfindet bei der Leistung von Leuten, die zufällig denselben Pass besitzen wie man selbst, hat vom internationalen Wesen des Fußballs nichts begriffen. Um das Team eines Landes zu unterstützen, mit ihm zu feiern und zu leiden, braucht es keinen nationalistischen Stolz. Das gilt in Bad Urach wie am Bosporus. Ich selbst tue mich inzwischen schwer, irgendeine fußballerische Position zu beziehen, nachdem meine Träume von Spaniens Fußballkunst geplatzt sind. „El Toque“, wie die Spanier ihre einzigartige Ballbehandlung und Spielregie nannten, ehe sie unter der Spottbezeichnung „Tiki-Taka“ bei uns bekannt wurde, scheint fürs Erste erledigt. Tröstlich für mich, dass die fußballerische Rückentwicklung in die Hauruck-Ära in der bevorstehnden Fünft­ligasaison der Stuttgarter Kickers womöglich nicht groß auffallen wird.

Meine verstörte Fußballseele habe ich zuletzt durch sinnlose Stadtläufe zwischen den Spielen zu kurieren versucht. Erst stand ich, obwohl noch unschuldig, völlig verängstigt vor dem Plakat an einer Klubtür in der U-Ebene des Schwabenzentrums: „Wer hier pisst, stirbt“. Ich ließ die Hose zu und überlebte. Wenig später schlug mein Herz vor Edelmut höher, als ein Streich­ensemble zur Mittagszeit am Marienplatz Restaurantgäste bespielte. Bei näherem Hinhören jedoch musste ich meine für Bettler reservierten Münzen weg­stecken. Es handelte sich um einen kostenlosen „Tafelkonzert“-Auftritt des Stuttgarter Kammerorchesters, das in der internatio­nalen Wertschätzung einen besseren Platz einnehmen dürfte als das DFB-Team.

Leider konnten meine kleinen Spaziergängerfluchten meine Orientierungslosigkeit vor dem WM-Finale im schönen Russland nicht eindämmen. Auch nicht der Therapieversuch, den Blumen auf meinem Mini-Balkon Gutes zu tun, indem ich sie mit dem Flachmann aus einem russischen Supermarkt von Freiberg goss; diese Flasche ziert ein Bild mit Putin als todes­mutigem Angler in Camouflageklamotten.

Den einzigen Ausweg aus meinem sport­lichen Tunnel scheint mir ein beinahe schon voreilig abgehakter, nicht lange zurück­liegender Ausflug zu bieten. Die Tragweite dieser Bahn- und Busreise über den Hallschlag in eine schön gelegene Landschaft namens Schnarrenberg, zwischen Zuffenhausen und Münster, wurde mir erst jetzt bewusst, als ich ein neu aufgelegtes Buch des großen US-Schriftstellers John Fante zu lesen begann. Sein Roman „1933 war ein schlimmes Jahr“ schildert das Erwachsenwerden des Schülers Dominic, der spürt, wie er „von Minute zu Minute älter“ wird. Der Sohn eines aus Italien stammenden, arbeitslosen Maurers reibt pausenlos seinen linken Arm mit stinkendem Massageöl ein. Mitten in der Wirtschaftskrise träumt er davon, mit seinem Wunderarm zu einem berühmten Pitcher, einem Werfer beim Baseball, aufzusteigen.

Man könnte mir unterstellen, diese Geschichte habe rein gar nichts mit dem Schnarrenberg zu tun. Von wegen. Dort spielen die Stuttgart Reds in der 1. Liga ziemlich professionellen Baseball. An einem Sommerabend habe ich mir, einen Hot Dog in der einen und eine Cola in der anderen Pitcher-Hand, das Match der Reds gegen die Heidenheimer Heideköpfe angeschaut. Im Gegensatz zu meiner kundigen Begleiterin habe ich von diesem Spiel null Komma null begriffen. Doch strahlte es auf mich eine so betörende Ruhe aus, dass ich auf den Schnarrenberg zurückkehren werde, sobald ich John Fantes Roman zu Ende gelesen und die Franzosen das Finale gegen die Kroaten gewonnen haben.

 

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