Bauers Depeschen


Donnerstag, 10. März 2016, 1601. Depesche



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LIED DES TAGES



FLANEURSALON LIVE

Es gibt noch Karten für den bevorstehenden FLANEURSALON: Wir treffen uns am Dienstag, 22. März, in der Friedenau in Ostheim. Mit den Musikern Stefan Hiss, Marie Louise & Zura Dzagnidze. Durch den Abend führt Michael Gaedt. Im schönen Wirtshaussaal der Friedenau werden ab 18 Uhr Essen & Getränke serviert. Ab 20 Uhr gibt es Lieder, Geschichten und andere Merkwürdigkeiten. Reservierungen: 0711/2626924.

 

Die aktuelle StN-Kolumne:



MAUER IN DEN KÖPFEN

Kaum war die Kanzlerin weg, kam die Sonne in die Stadt. Am Morgen des 9. März 2016, wenige Tage vor der Landtagswahl, tanzen nach einer schier endlosen Kälte- und Regendepression die Vorboten des Frühlings durch die Straßen – ich im Windschatten hinterher. Die Stadt sah aus, als könnte sich alles zum Guten wenden. Frühzeitig hatte ich am Vormittag im Ordnungsamt meine Stimme abgegeben, ohne die geringste Garantie, je eine neue zu bekommen.

Diese Aussicht hat mich dazu getrieben, noch am selben Tag im legendären Fachgeschäft Elektronic-Dräger, Hauptstätter Straße, das größte Megafon zu kaufen, das je auf Lager war. Ein leibeigenes Sprachrohr zu besitzen, war mein Traum, seit ich bei jedem Streik erfahren musste, dass immer dann, wenn es ernst wird, in sämtlichen Megafonen der Gewerkschaftsfunktionäre die Batterien leer sind.

Die Flüstertüte, an sich gebaut, das Elend dieser Welt in dieselbe hinauszuschreien, gilt im Digitalzeitalter zwar als ziemlich archaisches Vehikel. Meine vom Dräger allerdings ist ein anderes Kaliber, weil man mit ihm nicht nur sein eigenes Engelsgeflüster verstärken, sondern auch den satanischen Sound aus einem Taschentelefon abspielen kann. Die Welt wird also noch hören von dem Mann, der vorzeitig seine Stimme abgab und sich ein Megafon besorgte.

Das Briefwahlbüro befindet sich im dritten Stock des Ämtertrakts im Schwabenzentrum, Eberhardstraße, direkt am Josef-Hirn-Platz. Den Hirnplatz hat man 1983 nach einem Finanzbürgermeister benannt, der in seiner Amtszeit von 1946 bis 1964 den Großteil der Steuereinnahmen für den Straßenbau mitten durch die Stadt verprasst haben muss. Anders ist der Zustand der Stadt kaum zu erklären.

Ähnlich grobschlächtig haben die Rathauspolitiker in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Bau des Schwabenzentrums den Kern der historischen Altstadt zerstört. Irgendwie passend, dass in diesem Glas- und Betonkasten mit seinem blöden Namen neben Kaschemmen und Spielhöllen ausgerechnet eine Behörde residiert, die für „Ordnung“ sorgen soll. Wer noch vor dem Sonntag die schnelle Briefwahl mit direktem Urnengang wählt, sollte aufpassen, dass er nicht die Eingangstür verwechselt. Er könnte sonst im Amt für „Waffen-, Sprengstoff-, Jagd- und Fischereiangelegenheiten“ landen, in einer Institution, die zumindest im Moment noch nicht für die Gestaltung der politischen Zukunft des Landes zuständig ist.

Die Abgabe meiner Stimme ging mit freundlicher Betreuung durch die Damen vom Amt problemlos über die Bühne. Es war auch gar nicht so schwer: Man muss einen blauen in einen rosa Umschlag stecken und dieses politische Gesamtpaket in den Schlitz einer Holzkiste werfen. „Schwarzbraun ist die Haselnuss“, habe ich, ohne Megafon, beim Versenken meiner Stimme gesungen, und fertig war das kommende freiheitlich-demokratische Parlament.

Am Josef-Hirn-Platz gibt es einige Lokale, darunter den Imbiss Beirut und den Griechen Thios Inn, das CD (mit Weiß- und Bockwürsten) und in der Nähe das äußerst beliebte Café Chamäleon aus dem Hause Hafendörfer. Geht man vor den Ordnungsämtern die Treppe hinunter auf den runden Asphaltplatz vor der Stadtbahn-Unterführung zum Leonhardsviertel, trifft man seit geraumer Zeit wieder auf Leben im einst schwarzen Loch. Das Vietnam-Restaurant Breitengrad 17 läuft gut, und auch der benachbarte Club White Noise ist ein Segen für diese Problemzone: Mit Freude sehe ich das Plakat für ein Konzerts der amerikanischen Folksängerin Joan Shelly aus Kentucky (Auftritt am 16. März). Auch gegenüber, in den Räumen des einst legendären Litfaß unter der Leitung des 2006 verstorbenen Ali Taner (wo zuletzt eine Bar namens Meyer’s den Geist aufgab), ist bereits die Musik der Hoffnung zu hören, nämlich Baulärm: Ein zweiter Club entsteht. Eine weitere liebenswerte Adresse ist übrigens der Zeitungskiosk am Eingang zur U-Bahnhöhle.

Das alles sind nur oberflächliche Details aus dem Geschäftsleben, die allerdings interessant werden, wenn man die Zusammenhänge sieht: Besagtes Loch – das lange den Nachtgestalten als öffentliches Pissoir diente – verbindet ohne Wenn und Aber die von der Stadtautobahn tranchierte Altstadt. Einerseits führt der Weg hinüber ins Leonhardsviertel. Andererseits stellt es eine direkte Verbindung zwischen dem Leonhardsviertel und den Bars und Kneipen am Hans-im-Glück-Brunnen her.

Leider aber hat der Sprung von hüben nach drüben bisher nie richtig funktioniert: Zur städtebaulichen Barriere kommt die Mauer in den Köpfen des Publikums. Da aber im Leonhardsviertel neben den Rotlichtläden inzwischen neue originelle und stilvolle Lokale jenseits des Sexgeschäfts Gäste locken, wie etwa die kunterbunte Kneipe Immer Beer Herzen, müsste man die zentrale Ader im historischen Zentrum einfach mal als solche erkennen und bespielen: Vom Hans-im-Glück-Brunnen gibt es für den geneigten Fußgänger eine direkte Piste mit Rastplätzen ins Schmuddelmilieu. Und aus diesen Stationen müsste sich doch was machen lassen: Hans-im-Glück-Brunnen, Hirnplatz, Schwabenloch, Leonhardsviertel, bei Bedarf weiter ins Bohnenviertel – und zurück.

Für den mentalen Brückenschlag stelle ich jederzeit meine Flüstertüte zur Verfügung: Es ist Zeit, vom einen zum anderen Ufer der Stadtautobahn freundliche Einladungen hinüberzusingen. Das wäre kein Lockruf des Geldes. Vielmehr muss man die zerrissene Altstadt kitten, bevor die Bulldozer das Leonhardsviertel für eine Shopping Mall mit integrierten Luxuswohnungen platt machen. Auch für diesen Fall steht das Megafon bereit.



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