Bauers Depeschen


Mittwoch, 30. März 2016, 1608. Depesche

 

DAS BASIS-FEST

Freunde der Stuttgarter Altstadt und DGB-Leute veranstalten am Samstag, 16. April, das 1. BASIS-Fest. Das Basis ist ein kleines Beratungszentrum des DGB in den ehemaligen Räumen des legendären Café Schmälzle im Leonhardsviertel, Hauptstätter Straße 41. Das Fest ist als Tag der Begegnung und als kleine Hommage an die Altstadt gedacht. Es gibt gutes Essen, Getränke - und ein Programm. Michael Dikizeyeko & Steve Bimamisa spielen afrikanische Songs. Mitglieder des Vesperkirchen-Chors rahmenlos & frei singen ihre schönsten Lieder. DGB-Mitarbeiter stellen das Basis vor, unsereins liest Texte über die Altstadt vor. Der Fotograf Jim Zimmermann stellt Bilder aus. Alle sind herzlich willkommen. Das Basis-Fest beginnt um 16 Uhr. Eintritt frei.



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LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne "Joe Bauer in der Stadt":



GEFÄHRLICHE JAHRESZEIT

Es war Ostern, ziemlich kalt und zu früh am Tag, weil sie die Uhr auf „Sommerzeit“ umgestellt hatten. Meine S-Bahn fuhr hinaus aus der Stadt nach Weil der Stadt. Spontanes Bahnfahren ist eine Begleiterscheinung des Herumgehens: Tagelang müsste ich zu Fuß gehen, um zu sehen, wo die vielen Leute arbeiten, die vom Arbeiten niemals reich werden.

Feuerbach fliegt vorbei, Zuffenhausen, wir erreichen die Haltestelle Neuwirtshaus am Porscheplatz. Ein paar Kilometer durch den Kreis Ludwigsburg nach Korntal, zurück auf Stuttgarter Gebiet, nach Weilimdorf. Vor dem Zugfenster Fabriken, Industriezonen, Wohnsiedlungen. Die Kältezonen der Stadt, Trabanten der Urbanität, unbekanntes Land. Erst nach Leonberg, scheint mir, hat unser Rußpott rund um den Kessel ein Ende; Wiesen und Felder, so weit das Auge reicht.

Als ich an der Endstation Weil der Stadt aussteige, grüßt mich am Bahnsteig freundlich ein Mann, der seine Touren bodenständiger und mutiger zu gestalten scheint als unsereins: Er trägt einen Schlafanzug, geht barfuß und tänzelt. Schon lange habe ich aufgehört, mich über Menschen zu wundern. Von Weil der Stadt aus hat vor ein paar hundert Jahren der Wissenschaftler, Theologe und Philosoph Johannes Kepler das Universum erforscht, den Himmel und die Hölle. Warum sollten die Menschen dieser Stadt heute die Welt nicht barfuß erobern?

Ich steige in einen Bus, fahre weiter an den Ort, in dem der Mann geboren wurde, der das Nacktklettern liebte. Wenn auch nicht zuvörderst als nudistischer Alpinist, so wurde er doch weltberühmt: Vor siebzig Jahren, im Dezember 1946, erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

Von seinen unzähligen Werken gilt „Der Steppenwolf“ als sein berühmtestes. Wer wie ich Ende der Sechziger pubertierte, hatte irgendwann immer einen „Steppenwolf“ in der Gesäßtasche seiner Jeans, die er zuvor mit viel Mühe und einer Drahtbürste in der Badewanne verschlissen hatte. Alles in dieser Zeit schien zu explodieren, auch die Musik.

Es war die Renaissance des Schriftstellers Hermann Hesse, geboren am 2. Juli 1877 in Calw. In den Sechzigern lag etwas in der Luft, die Dinge änderten sich, und da kam dieser Kerl aus einem erstmals 1927 erschienen Buch gerade wieder recht: „Es war einmal einer namens Harry, genannt der Steppenwolf. Er ging auf zwei Beinen, trug Kleider und war ein Mensch, aber eigentlich war er doch eben ein Steppenwolf.“ Harry kam weder mit der verdammten Gesellschaft noch mit sich selbst zurecht, und als ich jung und bartlos war, gab es viele herumstreunende Steppenwölfe, die nur mit Steppenwölfen klarkamen. Dann tauchte auch noch eine kanadische Rockband namens Steppenwolf auf und spielte „Born To Be Wild“. Ja, was sonst. Der Sänger dieser Band hatte 1944 in Ostpreußen das Licht der dunkelsten aller Welten erblickt, vier Jahre später floh seine Mutter mit ihm aus der sowjetischen Besatzungszone nach Hannover, 1958 emigrierten sie nach Kanada. So wurde aus einem ostpreußischen Jungen namens Joachim Fritz Krauledat der amerikanische Rockstar John Kay. Als ich ihn Anfang der Achtziger, damals nicht mehr ganz so berühmt, in einem kleinen Club namens Easy am Stuttgarter Olgaeck traf, sprach er er fließend Deutsch. Zwanzig Jahre später, 2002, spielte er beim Internationalen Hermann-Hesse-Festival in Calw.

Ich selbst konnte mit dem literarischen Weltenwanderer Hermann Hesse in meiner Jugend nicht viel anfangen. Er erschien mir kitschig, esoterisch. Mit Hesse in der Hosentasche, fürchtete ich, könnte ich auf den Sitzkissen einer Teestube zwischen dem Gestank von Räucherstäbchen und gut gewürzten Tabaktüten schon früh die Manneskraft verlieren.

Es war nicht ganz 40 Jahre später und ein trüber Ostertag, als ich mich jetzt beim Blättern in Zeitungen an Hesse erinnerte: Die amerikanische Rocksängerin und Poetin Patti Smith hat gerade ihr Erinnerungsbuch „M Train“ veröffentlicht und der deutsche Rocksänger und Poet Udo Lindenberg anscheinend Probleme, genügend Karten für seine Open-Air-Show am 28. Mai im VfB-Stadion loszuwerden. Beide, Smith und Lindenberg, sind große Hesse-Verehrer. Davon beseelt, löste ich ein Ticket nach Calw im Schwarzwald, wo die Häuser eng und stolz stehen und viele Balken haben. Wo der Dichter an mehreren Plätzen in verschiedener Aufmachung herumsteht – als würde man Skulpturen eher trauen als der Kraft seines herumschwirrenden unsterblichen Geistes.

Es gibt eine kleine Textsammlung von Hesse mit dem Titel „Frühling“, darin findet sich ein guter Grund, mit der S-Bahn hinauszufahren und mich der Welt zu stellen: „Der Frühling will überstanden sein; er ist für Alternde die gefährlichste Jahreszeit“, schreibt der Dichter 1935. Das Altern, man merkt es schnell beim schüchternen Gang durch das Calwer Hermann-Hesse-Museum, ist ein großes Thema dieses doch ewig jugendbewegten Schriftstellers, und da juckt es mich, seinen amerikanischen Kollegen Philip Roth zu zitieren: „Das Alter ist kein Kampf; das Alter ist ein Massaker.“

Dem Stuttgart-Patrioten sei noch gesagt, dass Hesse von 1892 bis 1893 das Gymnasium von Cannstatt besuchte, als Cannstatt noch nicht zu Stuttgart gehörte. Eine Hesse-Straße findet sich weder hüben doch drüben vom Neckar. Weil gerade erst Wahlen waren, erwähne ich noch den politischen Hesse. Seinem Sohn Heiner schrieb er am 31. Januar 1930, warum er nicht Sozialist geworden sei, obwohl er „den Sozialismus für die ­einzige anständige Gesinnung“ halte: Die Lehren von Marx seien nicht „ganz rein und einwandfrei“ und „die Sozialdemokraten in der ganzen Welt ihren besten Grundsätzen längst untreu geworden“.

Der Frühling ist sich treu geblieben. Die Menschen sind trotzdem so dumm zu glauben, sie könnten die gefährlichste Jahreszeit mit der „Sommerzeit“ ändern wie eine sozialdemokratische Gesinnung.



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