Bauers Depeschen


Samstag, 09. April 2016, 1613. Depesche



 



ABSTIEGSKAMPF: Würzburger Kickers - Stuttgarter Kickers 2:1



DAS BASIS-FEST

Freunde der Stuttgarter Altstadt und DGB-Leute veranstalten am Samstag, 16. April, das 1. BASIS-Fest. Das Basis ist ein kleines Beratungszentrum des DGB in den ehemaligen Räumen des legendären Café Schmälzle im Leonhardsviertel, Hauptstätter Straße 41. Das Fest ist als Tag der Begegnung und als kleine Hommage an die Altstadt gedacht. Es gibt gutes Essen, Getränke - und ein Programm. Michael Dikizeyeko & Steve Bimamisa spielen afrikanische Songs. Mitglieder des Vesperkirchen-Chors rahmenlos & frei singen ihre schönsten Lieder. DGB-Mitarbeiter stellen das Basis vor, unsereins liest Texte über die Altstadt vor. Der Fotograf Jim Zimmermann stellt Bilder aus. Alle sind herzlich willkommen. Das Basis-Fest beginnt um 16 Uhr. Eintritt frei.



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HUHN UND HUND

Stuttgart ist dieses Großding „zwischen Wald und Reben“; das versprach die Stadtwerbung schon in der Nazi-Zeit. Streunern wie ich bietet der Kessel mit seinen Hängen und Hügeln einige fragwürdige Vorteile: Die Wege sind fast immer kurz, und die Chancen, sich zu verirren, nahezu bei null. Da ich an einer vielversprechenden Orientierungslosigkeit leide, ist die Gewissheit deprimierend, schon deshalb immer zurückzufinden, weil wir immer irgendwo den Fernsehturm oder den Monte Scherbelino sehen. So verpasse ich womöglich die schönsten Wege in die Abgründe. Dennoch kann ich behaupten: Für den Herumirrenden ist das Leben auf dem Holzweg allemal spannender als auf der Stadtautobahn.

Es ist ein Allerweltstag im April, der mich nach Ostheim und Feuerbach führt. Am Morgen fahre ich mit der Linie 4 vom Westen zur Haltestelle Leo-Vetter-Bad. Dauert etwa eine Viertelstunde. Beim Deutschunterricht im SSB-Depot für Geflüchtete, die in der Turnhalle der Ostheimer Raichberg-Realschule untergebracht sind, begegne ich Jonas, einem der ehrenamtlichen Sprachlehrer. Nach der Arbeit besuchen wir in der Nähe den Wienerwald, einen symbolischen Ort der Einwanderungsstadt Stuttgart: Vor mehr als 50 Jahren hat der Grieche Efstratios Kokinakias das Lokal eröffnet, sein Sohn Vasilios und dessen Frau Christine führen den Laden seit 2008. Herr Kokinakias senior, ein stattlicher Mann in den Sieb­zigern, ist zurzeit zu Besuch in Stuttgart. Nachdem wir ein paar Worte gewechselt haben, lädt er mich auf eine Flasche Wein ein – in sein Restaurant auf Rhodos, wo er lebt. So ist das in Stuttgart international.

Der Flüchtlingshelfer Jonas Kerner, in Ostheim zu Hause, hat von der goldenen Ära des deutschen Grillhendl-Imperiums Wienerwald nie gehört. Er ist 22 Jahre jung – verfügt aber schon über beachtliche Lebenserfahrung: Nach zwei Semestern Kindheitspädagogik warf er hin und machte sein Hobby zum Beruf. Seit einem Jahr verdient er sein Geld als Diabolo-Artist, tritt bei Firmenfesten und in Theatern auf. Diabolo – dies nur für die Zirkuslaien – ist ein doppelkegel­förmiges Spielgerät, das man auf ein Seil setzt, in die Luft schleudert und wieder auffängt. Dieses Ding, oft befeuert von Lichtspielen, taugt für grandios choreografierte Varieté-Kunststücke.

Bis vor kurzem hat sich Jonas so gut wie nicht für Politik interessiert. Der Terror der Rechten und Rassisten und die Ergebnisse der jüngsten Landtagswahlen haben ihn aufgeweckt. Er beschloss, als Sprachlehrer Flüchtlingen zu helfen. So ändern sich die Zeiten, auch im Privaten.

Adios, Ostheim. Mit der Bahn nach Norden. Heute nicht nach Stammheim, wo im weltberühmten Knast neuerdings katastrophale Platznot herrscht. Diese Nachricht erinnert mich an einen der vielen bescheuerten deutschen Titel für gute internationale Filme: „Im Kittchen ist kein Zimmer frei“ hieß die Hommage an die Pariser Obdachlosen mit Jean Gabin in der Hauptrolle; 1959 lief sie in Frankreich unter dem Originaltitel „Archimède le clochard“. Das Wort „Kittchen“ kennt heute übrigens keiner mehr im Bau, den man in der Altstadt früher auch „Kessel“ nannte.

Am Feuerbacher Bahnhof steige ich aus. Nach einem intensiven Blick auf ein berührendes Städtebau-Arrangement mit Dönerimbiss-Wagen und türkischer Baracken-Schänke (Sohbet Café) steuere ich das Schick-Areal hinter den Schrotthäufen der Firma Karle an. Schon immer habe ich die Werbeslogans dieses früher am Nordbahnhof stationierten Recycling-Unter­nehmens bewundert: „dein Schrott, mein Schrott“, „rein damit und weg“ usw.

Unter heftiger Atemnot überquere ich das Gelände der Stuttgart-Filiale von Deutschlands größtem Seefischimporteur, der Deutschen See GmbH, und kritzle was in mein Notizbuch. Ein gerade einparkender Lkw-Fahrer winkt mich heran und fragt durchs heruntergelassene Fenster: „Warum du schreiben Autonummer auf?“ – „Mann, sage ich, sehe ich wie ein Bulle aus – oder wie eine Politesse?“ Wir werden sofort Freunde und unterhalten uns entspannt über das internationale Fischgeschäft.

Auf dem Schick-Areal, direkt an der Eisenbahnstrecke, sind in ehemaligen Firmengebäuden kleine Künstlerstudios und originelle Geschäfte untergebracht. Auf dieser Meile kommt es vor – der Fotograf Lutz Schelhorn belegt es mir mit ­g –, dass sich ein entlaufenes Huhn mit einem Haushund anfreundet. Vor der Tür treffe ich den Kaffee-Mann Harry. Er betreibt eine Rösterei. Komm mit, sagt er, ich zeig dir das Studio von Markus Birkle.

Markus Birkle ist ein bekannter Musiker, seit vielen Jahren fester Gitarrist der Stuttgarter Superstar-Band Die Fantastischen Vier; daneben auch Kopf der vom Jazz inspirierten Elektro-Band Netzer. Zurzeit baut er auf 160 Quadratmetern ein selten schönes Musikstudio auf: großzügige, stilvoll gestaltete Räume mit Galerie. Markus, 48 Jahre alt, ist ein Historien­-Liebhaber (um das Dummwort „Vintage“ zu vermeiden): Er sammelt legendäre Anlagen und Instrumente. Irgendwo an einem sicheren Ort lagert er Studio-Technik aus den vierziger, fünfziger, sechziger Jahren, einzigartige Radio-Mikrofone, Mischpulte und Röhren-Verstärker. Dazwischen eine der uralten Silvertone­-Gitarren, die unter anderem der große Amerikaner Ry Cooder spielt.

Mit seiner Art Studio-Arbeit will Markus der Musik das Live-Gefühl zurückzugeben, als Antwort auf die oft seelenlosen Computer-Produktionen im Fließbandrhythmus. Der virtuose Gitarrenspieler ist auch ein versierter Tüftler und Handwerker und vor allem ein Mensch, mit dem man plaudern kann. In zwei Monaten will er sein Studio eröffnen und darin auch kleine Konzerte machen. Da kommt man doch gern wieder nach Feuerbach, wo man den Zügen nachschauen kann, am Bahndamm, wo unsere kleine Stadt mit ihren kleinen Geheimnissen noch nicht zu Ende ist.



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