Bauers Depeschen


Freitag, 04. März 2016, 1598. Depesche



 



DIE MEISTEN KARTEN für den nächsten FLANEURSALON sind weg: Wir treffen uns am Dienstag, 22. März, in der Friedenau in Ostheim. Mit den Musikern Stefan Hiss, Marie Louise & Zura Dzagnidze. Durch den Abend führt Michael Gaedt. Im schönen Wirtshaussaal der Friedenau werden ab 18 Uhr Essen & Getränke serviert. Ab 20 Uhr gibt es Lieder, Geschichten und andere Merkwürdigkeiten. Reservierungen: 0711/2626924.



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LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:

DANN FANGEN WIR VON VORNE AN

Kommen Sie in einer Dreiviertelstunde, sagt er am Telefon, dann kann ich noch in Ruhe essen. Sechster Stock, sagt er noch. Vielleicht ein Augenzwinkern des Schicksals, dass der ein Leben lang engagierte Kriegsgegner Theodor Bergmann in einer Siedlung zu Hause ist, die der Volksmund Hannibal getauft hat. Er wohnt in einem der drei mehr als 20 Stockwerke hohen Blöcke im Asemwald, die in den sechziger Jahren einen heftigen Architektenstreit auslösten.

Kommen Sie rein, haben Sie saubere Schuhe.

Theodor Bergmann fühlt sich wohl im Asemwald. Altersgerechte Wohnungen, sagt er, der Aufzug tadellos und gleich vor dem Haus der Park zum Spazierengehen. Der Hannibal ist nicht weit weg von der Uni Hohenheim, wo Theodor Bergmann von 1965 an als promovierter Wissenschaftler gearbeitet hat. Von 1973 bis 1981 war er Professor für international vergleichende Agrarpolitik, ein forschender Weltbürger.

In seinem Flur hängen die Porträts von Rosa Luxemburg, von den russischen Revolutionären Nikolai Bucharin und Leo Trotzki, beide ermordet von Stalinisten. Und er hat eine Beziehung zu diesem Stuttgart mit seiner großen Vergangenheit der Arbeiterbewegung. Da sind die Erinnerungen an Genossen wie Clara Zetkin, Willi Bleicher, Georg Stetter, Eugen Ochs, Wilhelm Schwab und viele andere.

Unsereins kommt auf den letzten Drücker. Schon am nächsten Morgen wird Herr Bergmann wieder auf Reisen gehen. Taxi nach Degerloch, Stadtbahn zum Hauptbahnhof, mit dem Zug zum Frankfurter Flughafen. Allein, ohne Begleitung. Für den 7. März hat seine Familie in Israel die Feier zu seinem 100. Geburtstag geplant. Früher ist er mit seiner Frau Gretel um den Globus gereist. Hat mit ihr die Weltpolitik diskutiert. Sie stammte aus einer linken sozialdemokratischen Familie, den Steinhilbers aus Heslach. Vor 22 Jahren ist sie gestorben.

Aus seinem Wohnzimmer der Blick auf kahle Bäume, es ist Montagmittag, seine Betreuerin, eine Genossin, hat sich gerade verabschiedet. Am Tag zuvor haben sich die Schweizer in einer Volksabstimmung mit überraschend großer Mehrheit gegen die fremdenfeindlichen Pläne der rechtspopulistischen SVP entschieden. Herr Bergmann, den auch die jüngsten Genossen seiner Partei Die Linke nur Theo nennen, ist informiert, formuliert präzise mit klarer Stimme. Das Engagement fortschrittlicher Schweizer Bürger hat gesiegt – wieder ein Hoffnungsschimmer. Er war und ist bis heute, darauf legt er besonders Wert, ein kritischer Kommunist. Wir müssen ständig dazulernen, sagt er, Systeme lassen sich nicht auf jedes Land übertragen. Fünfzehnmal ist er in den vergangenen Jahren nach China gereist, auf eigene Rechnung, nicht auf Einladung. Zurzeit arbeitet er an einem Buch über die Entwicklung des chinesischen Kommunismus. Er verfolgt die Kämpfe der Linken in Griechenland, Spanien, Portugal. Und wer, sagt er, hätte vor ein paar Monaten geglaubt, dass ein Linker wie Bernie Sanders in den USA so viel Zuspruch findet wie jetzt?

Alles ändere sich ständig, es bestehe kein Grund zu resignieren. In der Geschichte gebe es „keine Endsiege“, sagt er, keinen Tag habe er an den Sieg von Hitlers Nazis geglaubt. Herr Bergmann, sage ich, selbst Ihre konservativen Kritiker äußern sich in einem Punkt immer mit Respekt: Theodor Bergmann habe nie geklagt, sei dem Leben stets mit Zuversicht begegnet. Ich hatte keine Zeit zum Klagen, sagt er, mit siebzehn habe ich mich selbstständig gemacht, war auf mich allein gestellt, aus jeder Niederlage habe ich gelernt.

Er wächst als Sohn eines Rabbiners mit seinen Eltern und acht Geschwistern in Berlin auf. Am 3. März 1933 stirbt Theos Großmutter. Bei ihrer Beerdigung ziehen Nazi-Horden mit „Deutschland erwache“- und „Juda verrecke“-Gebrüll durch die Straßen. Tags darauf, er hat gerade Abitur gemacht, setzen ihn die Eltern am Anhalter Bahnhof mit einem Rucksack und ein paar Reichsmark in den Zug. Er reist nach Palästina, arbeitet in einem Kibbuz, zieht weiter in die Tschechoslowakische Republik, dann nach Schweden, wo er den Widerstand der KPO, der KPD-Opposition, leitet.

Ein Buch über ihn, 2007 im VSA-Verlag erschienen, trägt den Titel „Dann fangen wir von vorne an“ – frei nach einem Satz, den Friedrich Engels nach der Niederschlagung der 48er-Revolution formulierte: „Sind wir aber einmal geschlagen, so haben wir nichts anderes zu tun, als wieder von vorne anzufangen.“ Nach dieser Devise lebt der Marxist Bergmann, ein unermüdlicher Buchautor, bis heute. Es gibt eine Alternative zum Kapitalismus, sagt er, auch wenn alle bisherigen Versuche an einer „schlechten Politik“ gescheitert seien.

Unter dem Titel „Dann fangen wir von vorne an“ gibt es einen 80-minütigen Dokumentarfilm über Theodor Bergmann, die DVD ist dem gleichnamigen Buch beigelegt. Darin erfährt man auch etwas über seinen Tagesplan mit Arbeiten (Schreiben), „Turnen“, Spazierengehen, Essen. Selbstdisziplin, sagt er, hat nichts mit preußischem Drill zu tun. Vor wenigen Wochen erst war er, wie so oft, auf Einladung in einem Gymnasium, im Königin-Katharina-Stift, hat mit Schülern gesprochen. Gute politische Fragen zur Gegenwart hätten sie gestellt. Junge Leute, die ihm Hoffnung machen.

Wenn er aus seinem Leben erzählt, vom Überleben als jüdischer Kommunist, hat er nie nur die Vergangenheit im Blick. Immer baut er Brücken in die Gegenwart. Nein, sagt er, es sei falsch, das heutige Auftreten rechtsextremistischer Kräfte mit der Weimarer Republik zu vergleichen. Diese Umtriebe und Attacken vor dem Hintergrund der Flüchtlingsproblematik seien gefährlich, aber noch nicht faschistisch wie im vorigen Jahrhundert. Man müsse jetzt dagegenhalten. Als kleiner Junge in Berlin, sagt er, habe er täglich in vier Zeitungen gelesen. Überall gab es Bildungsangebote für die Arbeiter, in ihren Parteien und Vereinen. Auch auf diesem Gebiet, sagt er, müsse man wieder von vorne anfangen: zusammenarbeiten, ideologische Fronten abbauen. Seine heutige Partei, Die Linke, solle sich mit linken Sozialdemokraten an der Parteibasis verständigen, mit Gewerkschaftern, mit Bürgerinitiativen. Wenn er vom „Arbeiter“ spricht, meint er nicht nur die Menschen am Fließband, sondern alle Abhängigen, die Ein-Euro-Jobber und die Lehrer, die Leiharbeiter und die von den Banken entlassenen Angestellten.

Als ich mich verabschiede, fällt mein Blick auf das Gemälde im Flur zwischen Bucharin und Trotzki. Es stammt von Hans Tombrock, einem lange von den Nazis verfolgten Kommunisten und Angehörigen der Bruderschaft der Vagabunden, später ein guter Freund und Mitarbeiter von ­Bertolt Brecht. Der Künstler starb 1966 in Stuttgart. Am Ende war er sehr arm, sagt Herr Bergmann, dieser große Zeitgenosse, der bald hundert ist und Optimist.



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