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Dienstag, 11. Februar 2014, 1244. Depesche



 



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GASTDEPESCHE

Die in Stuttgart lebende Soziologin Annette Ohme-Reinicke hat neulich die Situation der Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 analysiert; ihr Essay erscheint mir so erhellend, dass ich ihn mit freundlicher Genehmigung der Autorin als Gastdepesche weitergebe:



DIE MACHT DER UNORDNUNG

Warum sich die Partei der Grünen vom Protest gegen Stuttgart 21 zurückzieht



Im Januar 2014 sind vier Gruppen und Verbände aus dem Aktionsbündnis gegen "Stuttgart 21" ausgetreten: der BUND Regionalverband Stuttgart, der VCD Landesverband Baden-Württemberg, der PRO BAHN Regionalverband Region Stuttgart - alle drei den Grünen nahestehend. Ausgetreten ist auch der Stuttgarter Kreisverband der Grünen. Das bedeutet: Die Grünen haben sich offiziell vom außerparlamentarischen Protest gegen "Stuttgart 21" verabschiedet.

DIE Stuttgarter Ereignisse werden in den Medien mit erstaunlicher Dramatik begleitet. Dies geschieht, seitdem der Stuttgarter Ordnungsbürgermeister Schairer (CDU) Ende November letzten Jahres, kurz vor der 200. Montagsdemonstration, den Versuch unternahm, die Demonstrationen vom Herd des Konfliks, dem Stuttgarter Hauptbahnhof, zu entfernen. Die "Süddeutsche Zeitung" mutmaßte am zweiten Dezember: "Der vielleicht bekannteste Bürgerprotest der Republik steht vor einer symbolträchtigen Zäsur." Nachdem sich am 14. Januar über tausend Demonstranten einer ordnungsamtlichen Vorgabe widersetzt hatten, eigenmächtig eine Demo-Route wählten und die Ordnung verletzten, konstatierte die Lokalpresse, nun sei der "Frieden in der Stadt" gefährdet. Acht Tage später traten die Grünen mit den drei anderen Gruppen aus dem Aktionsbündnis aus. Die Lokalpresse berichtete, jetzt auf Seite eins, von "autonom agierenden Aktivisten" und selbst die DKP, die in den Protesten wahrlich keine Rolle spielt, wurde von der "Stuttgarter Zeitung" bemüht, um Stereotype zu generieren. Ja, die Grünen seien sogar "in die Propagandamaschine radikaler Aktivsten geraten", aus der sie sich gerade noch rechtzeitig befreit hätten, so die "Stuttgarter Nachrichten".

Die Botschaft ist deutlich: Die Protestbewegung gegen "Stuttgart 21" habe sich gespalten in Realisten hier und Unbelehrbare dort. Während die Grünen, knapp davongekommen, die Plätze des öffentlichen Protests verlassen, blieben nur noch Extremisten übrig. Der Austritt war sogar eine dpa-Meldung wert und die Zeitung "Die Welt" fragte umgehend: "Verläuft der Widerstand gegen das Bahnprojekt nun im Sande?"

Nach eigenem Bekunden tendieren die vormals im Aktionsbündnis vereinten Gruppen in zwei Richtungen. Die einen wollen "Facharbeit" machen, sich etwa in Genehmigungsverfahren einmischen oder auf den Artenschutz achten. Die anderen wollen weiterhin "aktiven Widerstand" leisten und ihren Protest in den öffentlichen Raum tragen. Während letztere davon überzeugt sind, dass "Stuttgart 21" an sich selbst scheitern werde, erheben erstere keinen "Anspruch mehr darauf, das Projekt zu stoppen", so Gerhard Pfeifer vom BUND.

Selbst nach dem Austritt der Grünen-nahen Vereinigungen besteht das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 aus zehn Gruppen. Vertreten sind die Aktiven Parkschützer, der Parkschützerrat, die Gewerkschafter gegen Stuttgart 21, die Gruppe SPDler gegen Stuttgart 21, die Schutzgemeinschaft Filder, die Architekten gegen Stuttgart 21, das Architekturforum von Roland Ostertag, die Gruppe Bürgerbahn statt Börsenbahn, die Links-Partei und das Wählerbündnis SÖS. Die beiden letzten sind wiederum im Gemeinderat vertreten. Das ist immer noch ein breites Bündnis. Auch die Zahl der Montagsdemonstranten war nach dem Austritt nicht geringer als vorher. Warum also plötzlich die große mediale Aufmerksamkeit?

An der Zustimmung zu "Stuttgart 21" sei momentan nicht zu rütteln, meint Gerhard Pfeifer. Sie sei schon länger "politisch eingefädelt" worden, nämlich durch die Volksabstimmung und vor allem durch die Aufsichtsratssitzung der Bahn im vergangenen Jahr, als Staatssekretär Pofalla die Fäden zog. Die Volksabstimmung war freilich das Projekt der Grünen und die "politische Einfädelung" wurde von denen betrieben, um deren Koalitionsgunst sich die Grünen derzeit auf Bundesebenen bemühen: der CDU.

So erzählt man sich auf den Fluren des BUND angeblich, die im Aktionsbündnis verbliebenen Grünen-nahen Zusammenschlüsse seien vornehmlich von der BUND-Landeschefin, Brigitte Dahlbender, und "dem Staatsministerium" gedrängt worden, nun endlich die "Versöhnungslinie" Winfried Kretschmanns anzuerkennen. Diese besagt: "Stuttgart 21" sei zuzustimmen, als Legitimation diene die umstrittene Volksabstimmung. Pikanterweise wurde der Austritt weder des BUND und VCD, noch der Grünen mit deren jeweiliger Basis abgesprochen, sodass für Krach innerhalb der Verbände gesorgt sein dürfte. Stadtrat Tom Adler (Die Linke), ebenfalls Mitglied des Aktionsbündnisses, meint, das Austreten der vier Gruppen aus dem Aktionsbündnis sei nichts anderes als der Versuch, "den Protest auf der Straße zu schwächen" und den Weg frei zu machen für "Kretschmanns Orientierung auf schwarz-grün."

Die Differenzen innerhalb des Bündnisses klangen auch aus den eigenen Reihen bereits im Dezember letzten Jahres an. So bemerkte Volker Lösch in einer Rede: "Wer Partei- und Machtinteressen denen des Widerstands gegen 'S 21' vorzieht; (...) wer sich von den Zielen der Bürgerbewegung in Raten distanziert: Der soll wenigstens so ehrlich sein, das offen auszusprechen und die längst fälligen Konsequenzen daraus ziehen!", gemeint waren die Grünen. Im selben Monat schrieb Clarissa Seitz, in Personalunion Stadträtin der Grünen, Kreisvorsitzende des BUND-Stuttgart und bis vor kurzem Sprecherin des Aktionsbündnisses: "Stuttgart 21 ist (...) politisch nicht zu stoppen. Dazu fehlen die Mehrheiten in allen Parlamenten. Wir Grünen sind (...) realistisch genug, die Mehrheiten in allen Parlamenten für S 21 zu erkennen." Parlamentarische Mehrheiten sollten der Argumentation zu Folge ein "realistisches" Kriterium für erfolgreichen Protest sein.

Die parlamentarischen Mehrheiten gegen "Stuttgart 21", die Clarissa Seitz als Bedingung für erfolgreiche Proteste anführt, hat es allerdings nie gegeben. Es war nicht das Vertrauen, sondern das Misstrauen in Parlamente und etablierte Parteien, das die Bewegung gegen "Stuttgart 21" dynamisierte und einen "Druck der Straße" erzeugte, vor dem Angela Merkel und Dieter Hundt bald warnten. Die protestierenden Bürger haben intuitiv das praktiziert, was die Grundlage des klassischen Politikbegriffs, zumal des kommunalen, per se ist: Sie beanspruchten, dass die Bürger die öffentliche Sache, hier den Bahnhof, in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung stellen und, unabhängig von Parteizugehörigkeiten, als res publica verhandeln. Sie waren nicht parteiisch, sondern agierten unabhängig von Parteizugehörigkeiten. Damit ging die implizite Kritik an einem Parteiensystem einher, das vielen als bloße Simulierung von Politik erscheint und selbst von renommierten Wissenschaftlern als "postdemokratisch" bezeichnet wird. Die Menschen haben dagegen eigene Formen der Repräsentation gefunden. Solchermaßen aktive Bürger werden unkalkulierbar für Parteien jedweder Couleur, weil sie deren Logik nicht gehorchen, aber gleichwohl zu einem politischen Faktor werden können.

Hier offenbart sich das aktuelle Dilemma der Grünen gegenüber der Bürgerbewegung: Sie beharren auf den repräsentativen Parlamentarismus, während die Bürger gerade die Erfahrung gemacht haben, dass sie erst dann wahrgenommen werden, wenn sie außerparlamentarisch aktiv sind. Eine Erfahrung, aus der heraus die Partei der Grünen übrigens selbst entstanden ist. Der geforderte "Realitätssinn", sich "Mehrheitsverhältnissen" zu unterwerfen, wird als Vortäuschung politische Rationalität verstanden. Denn das real existierende politische System stellt immer wieder aufs Neue seine Irrationalität unter Beweis. Etwa dann, wenn sehenden Auges für viel Geld und mit großem ideologischen Getöse technische Großprojekte in die Welt gesetzt werden, die keinerlei Sinn für die Gesellschaft haben.

Den geltenden Maßstab grüner Parteipolitik offenbart Winfried Kretschmann. Während einer Montagsdemonstration im August 2010 hielt er den Aussagen, "Stuttgart 21" sei von den Stadtgremien demokratisch befürwortet worden, entgegen: "Aber: Zu solch einem Verfahren gehören Wahrheit, Klarheit und Offenheit." Damit sprach er dem Projekt die Legitimation ab, obwohl es den formalen Gang durch die parlamentarischen Institutionen genommen hatte. Vor der Bundestagswahl lautete das Credo des Regierungspolitikers Kretschmann: "Mehrheiten sind wichtiger als die Wahrheit." Auf den öffentlichen Streit um die Sache, den er vehement gefordert hatte, soll nun zugunsten von Mehrheiten unbedingt verzichtet werden. Eine Ironie dabei ist, dass neusten Umfragen ("Kontext", Stadt Stuttgart) tatsächlich eine Mehrheit gegen "Stuttgart 21" ermittelten.

Der tiefere Grund des Ausstiegs der Grünen und ihrer Verbündeten aus dem Aktionsbündnis liegt folglich in grundverschiedenen Politikformen: eine misst Erfolge an parteipolitischem Machtgewinn innerhalb des repräsentativen Parlamentarismus, die anderen setzt auf die Macht der Bürgerbewegung. Das ist historisch nichts Neues. Schon die viel zitierte Hannah Arendt beschreibt den Konflikt zwischen Parteien und "Aktionsorganen" als ein immer wiederkehrendes Phänomen im Verlauf politischer Auseinandersetzungen.

Doch der Stuttgarter Bürgerbewegung fehlt es derzeit auch an überzeugenden Perspektiven. Immer wieder hört man von einem "Tropfen", der das Fass zum überlaufen bringe, und davon, dass das Projekt "an sich selbst scheitern" werde, weil dessen Realisierung technisch gar nicht machbar sei. Der feinste Riss in der Mauer eines von Bauarbeiten betroffenen Hauses wird als quasi schicksalhaftes Zeichen gedeutet, dass es nun bald so weit sei und das ganze Gebäude "Stuttgart 21" in sich zusammenbrechen werde: "jetzt, wo die Sackgassen des Projekts immer deutlicher werden", schrieb ein Mitglied des Aktionsbündnisses noch vor zwei Wochen. Man fühlt sich an Diskussionen erinnert, die mithilfe ökonomischer Gesetzmäßigkeiten den Glauben an den zwangsläufigen Zusammenbruch des Kapitalismus nährten und die Überzeugung fütterten, unumstößlich auf der Gewinnerseite zu sein - wenn nicht jetzt, so doch sicher irgendwann. So ein Zustand kann jedoch lange andauern, und es scheint, als ersetze der tiefe Glaube an einen Zusammenbruch des Projekts "Stuttgart 21" eine Diskussion um eigene politische Ziele. Während die Grünen und ihnen nahestehende Organisationen um Mehrheiten taktieren, schaut offenbar die Masse der "Stuttgart 21"-Gegner eindimensional auf den Bahnhof.

Aber da ist noch etwas, das nervt. Nämlich die allmontäglichen Demonstrationen, seit inzwischen sage und schreibe mehr als vier Jahren. Zwar stellen die "Stuttgart 21"-Gegner längst keine Bedrohung mehr für irgendeine Regierung dar. Aber diese "laute, zähe, selbstbewusste Minderheit", wie der "Spiegel" vor gut vier Wochen schrieb, hat die Wirkung einer Fliege, die am Einschlafen hindert. Denn sie hält in penetranter Weise Erinnerungen wach: Die protestierende Minderheit nervt die CDU, weil sie an deren größte Niederlage in Baden-Württemberg erinnert: den Verlust der Regierungsmacht. Der Protest nervt die SPD, weil er erhebliche Diskussionen und Zerwürfnisse innerhalb der Partei provozierte und diese - trotz "Infrastrukturpartei"-Bekenntnis - nur auf Platz zwei der Regierungshierarchie gelandet ist. Der Protest nervt die Grünen, weil er sie nicht als Wortführer anerkennt, ihnen das letzte Wort in Sachen "Stuttgart 21" abspricht und sie peinlich daran erinnert, dass ihnen die Protestbewegung längst zur Manövriermasse um Mehrheiten geworden ist, mit der sie ein unredliches Spielchen treiben, ja aus ihrer parteipolitischen Logik treiben müssen. Der Protest nervt auch manche resignierten "Stuttgart 21"-Gegner, weil sie an ihre Enttäuschung, das Projekt nicht verhindert zu haben, nicht erinnert werden wollen. Und er nervt selbstverständlich einige Autofahrer, die montags eine halbe Stunde im Stau stehen. Aber diese Autofahrer können nach Hause fahren und sind ihn los, die Parteien dagegen nicht. Kurz: Die montäglichen Demonstrationen erinnern daran, dass trotz Verbote des Ordnungsamtes in dieser Stadt nicht alles in Ordnung ist und sich diese Form der Unordnung offenbar weder verbieten lässt noch parlamentarisch repräsentiert werden will.

Als die Grünen 2007 dem Aktionsbündnisses gegen "Stuttgart 21" beitraten, begann ihr politischer Aufstieg in Baden-Württemberg: Sie wurden bald größte Fraktion im Stuttgarter Gemeinderat und waren fortan Hoffnungsträger selbst für konservative Wähler. Ohne die Bürgerbewegung gegen "Stuttgart 21" wären die Grünen in Baden-Württemberg kaum an die Regierung gekommen. Längst haben sich zahlreiche enttäuschte Wähler abgewendet. Selbst der frühere Direktor des Stuttgarter Hauptbahnhofs, das ehemalige CDU-Mitglied Egon Hopfenzitz, erklärte vor der Bundestagswahl, nun die Linkspartei zu wählen. In wenigen Monaten wird wieder ein Stuttgarter Gemeinderat gewählt. Etliche Stadträte der Grünen treten nicht mehr an. Auch die "Stuttgart 21"-Gegner dürften sich andere Adressaten suchen. Aus wahltaktischen Gesichtspunkten wäre es deshalb für die Grünen das Angenehmste, es gäbe diese Bürgerbewegung gar nicht mehr. Da könnte der Vorstoß des Ordnungsbürgermeisters und der medial inszenierte Dämon "systemgefährdender Extremisten", die sich mit der Demokratie nicht vertragen würden, gerade recht gekommen sein.

(Der Text von Annette Ohme-Reinicke ist ursprünglich in "kontext" erschienen)



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