Bauers DepeschenMittwoch, 13. Februar 2013, 1057. DepescheKOLUMNENPAUSEHatte eine Woche Urlaub, musste ein paar Dinge erledigen und vorbereiten. Von Samstag an gibt es wieder neue Depeschen. - Und endlich verstehe ich Schmerz und Wahrheit (=Humor) hinter diesem Witz: Kommt ein Pferd in die Bar. Sagt der Barmann: Warum so ein langes Gesicht? BÜCHER Die kleine Nachauflage meines Buchs "Im Kessel brummt der Bürger King" ist endlich fertig und ausgeliefert - und im Plattencafé Ratzer Records am Leonhardsplatz gibt es wieder signierte Bücher. FLANEURSALON: FAMILIEN-BANDE IN DER RAMPE Für Freitag, 17. Mai, ist die Flaneursalon-Familiensaga im THEATER RAMPE geplant: Roland Baisch tritt mit seinem Sohn Sam Baisch auf, Zam Helga mit seiner Tochter Ella Estrella Tischa. Dazu haben wir den Rapper Toba Borke und seinen Beatboxer Pheel im Programm. Talkin' 'bout my generation ... Der Vorverkauf hat begonnen. (Der Flaneursalon am 19. Februar im Schlesinger ist ausverkauft) CAFÉ WEISS Keiner weiß, was aus dem Stuttgarter Café Weiß wird, wenn Ranko, der Nachfolger von Heinz Weiß, im März den Laden verlässt. Es gibt bereits einen neuen Pächter, ich kenne ihn nicht. Eine Erinnerung: IM WAHREN THEATER DER ALTSTADT Von Joe Bauer SOUNDTRACK DES TAGES Das 20. Jahrhundert ging dem Ende zu, als Heinz Weiß sich wieder mal die Zeit nahm, mir ein paar Sätze Stuttgarter Geschichte zu diktieren. Der Chef war gut in Form, er zeigte mit dem Finger auf die Delle in der Wand: Eine Revolverkugel hat die Spuren hinterlassen. Es geht keinen mehr etwas an, wem der Schuss gegolten hat. Der Rauch der wilden Jahre hatte sich längst verzogen. Ende der Neunziger, als das Café Weiß wieder so angesagt war wie in den besten Tagen des Rotlichtmilieus, trugen die Herren der Altstadt keine Kanonen mehr. „Das Weiß“ war inzwischen die bunteste Nachtstation der Stadt. Ranko, der Kellner, bringt uns eine Schale Pistazien an den Tisch, und er sagt, was er immer sagt, wenn es nichts zu sagen gibt: „Woisch, wie i moin!“. Heinz, der Chef, nippt an seiner Schorle; später wird es Bacardi geben. Über uns der Kronleuchter, hinter uns ein sattes Stück Paris, und aus der kleinen Musikbox an der Wand dröhnt die Stimme von Edith Piaf. Es gibt Dinge, die ändern sich nicht. Stuttgart, Geißstraße 16, das Herz der alten Stadt. Nebenan der Hans-im-Glück-Brunnen, heute Zentrum der Partygänger. Heinz Weiß hat in seiner Bar fast ein halbes Jahrhundert lang die Zeit angehalten. Kellner Ranko – und lange die Köchin Maria und seine Partnerin Annerose – halfen ihm. Bis heute sieht die Bar aus, wie sie 1961 bei der Eröffnung ausgesehen hat. Plüsch und Pomp. Spuren des Lebens sind hinzugekommen. Man stellt sich vor, wie ein Typ aus einem Film im Transen-Fummel die Klotreppe hochkommt und sein Lied singt: „ . . . komm blonder Trompeter, blas mir den Blues . . .“ Das Café Weiß – zunächst Kulmbacher Bierstuben – bestand bis in die achtziger Jahre hinein aus zwei Abteilungen. Kam man zur Tür herein, landete man links bei den Herren, rechts bei den Damen. Links war gelb tapeziert, rechts rot. Die Gäste wählten nach Neigung. Schwule, Huren und was es sonst so gibt in der Nacht pflegten die friedlichste Koexistenz seit der Erfindung des Unterleibs. Die paar Kugeln, die sich verirrten, bestätigten die Regel, und die Polizei kümmerte sich an diesem Ort nicht um menschenverachtende Gesetze wie den Paragrafen 175. Der berüchtigte Polizeipräsident Rau war selbst ein Rotlicht-Star. Bis heute ist der schon zu Lebzeiten legendäre Buchhändler Wendelin Niedlich, Jahrgang 1927, Stammgast im Café Weiß. Er war schon da, als noch alle da waren. Der Philosoph Max Bense, der Fluxus-Künstler Dieter Roth, der Ballettdirektor John Cranko, der Fußballprofi Buffy Ettmayer, der Regisseur Rainer Werner Fassbinder, der Politiker Willy Brandt. In der Bar, wo einst die Damen auf Freier warteten, hat man später auch Literatur serviert. Jeden Monat lasen Schauspieler des Staatstheaters aus einem der berühmtesten Werke der Weltliteratur. Bescheiden, wie er ist, hatte Wendelin Niedlich Marcel Prousts siebenteiligen Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gewählt. Die Reihe hieß „Na denn, Proust“. Der Wirt Heinz Weiß hat auch diese Auftritte mit einer Mischung aus Neugier und Gelassenheit überlebt. Theater hatte er Tag für Tag. Auch Gäste von der Bühne, vom Film, vom Fernsehen. Eine Weile diente das Lokal der ZDF-Reihe „Soko Stuttgart“ als Kulisse. In der Stadt gibt es keinen Laden, der so sehr an die alten Salons und Cabarets der Gescheiten und Gescheiterten erinnert wie das Weiß, nicht einmal Oskars Uhu-Bar im Bordell auf der anderen Seite der Altstadt. Heinz Weiß war schon im Viertel, als noch die Rotlichtbaracken, die legendären „Vereinigten Hüttenwerke“, auf Ackerland standen, wo heute das hässliche Schwabenzentrum verkommt. Das Café Weiß ist ein Glückstreffer im Zockersinn. Heinz’ Vater Alois, ein erfolgreicher Schneidermeister, fädelte einst in seinem Geschäft an der Hauptstätter Straße einen Zusatzerwerb ein; im Hinterzimmer führte er einen intimen Schankraum, eine Art Flüsterkneipe. Auch Heinz, am 20. Juli in Esslingen geboren, wurde Schneidermeister, erkannte aber schnell: Guter Stoff an der Bar war mehr wert. Als Heinz 1963 seinen wunderbaren Tratschsalon eröffnete, konnte er noch bis zum Marktplatz und zur Leonhardskirche hinüber schauen. Im Carré, sagte Heinz, gab es nur sechs Kneipen. Im Jahr 2000 waren es über dreißig, und danach hörte er auf zu zählen. Die Huren waren inzwischen verschwunden. Mitte der Achtziger hatten die Luden ihre Mercedes-Cabrios und Ford Mustangs verkauft. Sie gingen in Rente oder aufs Sozialamt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit saß man danach nirgendwo besser als in Heinz' urbanem Gemischtwarenladen. Alter und Herkunft spielten keine Rolle. Greenhorns und ergraute Säcke tranken um die Wette. Manchmal, zu seinem Geburtstag, las ich auf Wunsch den Gästen etwas vor, und die Flaneursalon-Musiker sangen Lieder. Oft sprachen wir über Fußball. Heinz war lange vor Mayer-Vorfelder VfB-Mitglied. Jahrzehnte lang saß er auf der Tribüne. Und er erzählte gute Geschichten: 1988, bei der EM in Deutschland, spielte die Sowjetunion im Neckarstadion gegen Italien im Halbfinale. Das UdSSR-Team trumpfte auf, dass alle Welt glauben musste, die Revolution der Russen fände auch auf dem Rasen statt. Die Wahrheit kam nicht ans Licht. In der Nacht vor dem Halbfinale hatten Italiens Stars das Café Weiß besucht. Sie fühlten sich einsam und tranken. Die Mädchen an der Bar hatten Mitleid und brachten sie im Parkhotel neben dem SDR zu Bett. Am nächsten Abend flogen den Italienern die Kugeln um die Ohren. Chancenlos verloren sie nullzwei. Im Frühjahr erkrankte Heinz Weiß 2009 an Krebs, er zog sich aus seiner Bar zurück, kam noch gelegentlich als Gast. Am 8. November 2009 starb er im Stuttgarter Katharinenhospital und wurde danach auf dem Fangelsbachfriedhof begraben. Sein Erbe ging an seinen Sohn Bernhard. Es ist eine verdammte Pflicht, das Café Weiß nach Rankos Abschied zu erhalten. KOMMENTARE SCHREIBEN IM LESERSALON GROSSKUNDGEBUNG AM SAMSTAG, 23. FEBRUAR Am Samstag, 23. Februar, findet auf dem Stuttgarter Schlossplatz die nächste Großkundgebung gegen Stuttgart 21 statt. Veranstalter sind die Architekten für K 21 und das Aktionsbündnis. Es sprechen Franz Alt, Hannes Rockenbauch, Brigitte Dahlbender, Peter Pätzold und unsereins. Musik machen die Profis vom Lenkungskreis Jazz. Beginn ist um 13.30 Uhr. Motto: "Endstation Stuttgart 21 - bitte alle aussteigen!" FRIENDLY FIRE: NACHDENKSEITEN BLICK NACH RECHTS FlUEGEL TV RAILOMOTIVE EDITION TIAMAT BERLIN Bittermanns Fußball-Kolumne Blutgrätsche VINCENT KLINK KESSEL.TV GLANZ & ELEND |
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