Bauers Depeschen


Samstag, 16. Dezember 2017, 1889. Depesche



 



Hört die Signale!

MUSIK ZUM TAG



Die Circuscolumne:

NUR MENSCHEN

Vor der Vorstellung gehe ich am Fluss entlang. In der Dunkelheit schimmert und glänzt der Neckar im elektrischen Licht wie ein Gewässer, das sich eine Stadt erst einmal verdienen muss. Es ist still am Ufer. Ab und zu keucht ein Jogger oder ein Radler vorbei, einmal höre ich das Rascheln einer Ratte.

Seit 25 Jahren gastiert der Weltweihnachtscircus auf dem Wasen am Neckarufer, und ich bin mir fast sicher, dass ich ihn schon vor einem Vierteljahrhundert besucht und seitdem kaum eine Vorstellung verpasst habe. 1992 ist die Diva Marlene Dietrich gestorben und der Saxofonbläser Bill Clinton US-Präsident geworden. Manfred Rommel war schon 18 Jahre lang OB und Birne Kohl zehn Jahre Kanzler. Sarajewo wurde von den Serben belagert, und in Rostock-Lichtenhagen terrorisierten Rechtsextremisten Asylanten.

Man könnte denken, die große Zirkusshow, die Magie von Exotik und Erotik, sei Ablenkung von der Welt. Unsinn. Wo sonst findet man so viel Welt an einem Ort.

Am Ende der Welt, auf dem Wasen, einem offiziellen Stuttgarter Stadtteil mit null Einwohnern, präsentiert der Weltweihnachtscircus seine würdige Geburtstagsshow; der Italiener Enrico Caroli hat sie mit viel Gefühl für die Wirkung feiner Bonbons und großer Ballons im globalen Theater inszeniert.

Mein Spaziergang am Fluss ist ein Trick: Wenn du nach einer Weile aus der klammen Kälte und Düsternis am doch etwas ­unheimlichen Wasser das Vorzelt mit seinem Bratwurst- und Champagnerklima betrittst, spürst du die Zirkuswärme umso intensiver. Das mag romantisch klingen, ist aber nüchtern betrachtet zu vergleichen mit dem Wohlgefühl, in einem der nahe gelegenen Mineralbäder aus kaltem Wasser unter die heiße Dusche zu fliehen. Man muss sich einfach nehmen, was die Stadt zu bieten hat – ohne im fetten Dezembergeschäft zu vergessen, was der Dichter Wiglaf Droste auf den Punkt gereimt hat: „Es lässt sich unter Weihnachtssternen / bequem die Heuchelei erlernen.“

Wenn ich den Weltweihnachtscircus als kleinen Fixstern des Lebens betrachte, dann auch deshalb, weil ich ihn immer in derselben Begleitung besuche. Mag der Fluss des Lebens die Richtungen geändert haben, so ist doch die gemeinsame Freude von uns Pappnasen an der Manege geblieben. Der Zirkus ist nicht zeitlos und nur für alle gleich, die sich eine Karte leisten können.

Als Besucher neigst du dazu, die einzelnen Nummern zu vergleichen und zu benoten wie in einem Fernsehwettbewerb à la „Deutschland sucht die Superpappnase“. Gerade im Zirkus aber habe ich gelernt, meinen Geschmack nicht allzu ernst zu nehmen. Gescheiter als Noten für Soli ist der Blick auf die ganze Sinfonie. Und Beurteilungen nach Privatgeschmack sind eher etwas für Stadträte, die Subventionen für Allerweltspopfestivals beschließen und diesen Unsinn „Kulturpolitik“ nennen, weil sie nichts von Kultur und erst recht nichts von Kulturpolitik verstehen.

Im Zirkus komme ich mir vor wie in Erich Kästners absurder Kurzgeschichte „Feier mit Hindernissen“: Ein Mann gerät am Heiligabend in die Gesellschaft von Varietékünstlern und erlebt, wie der anwesende „Kraftakt“ den hereingeschneiten Nachbarn „Streitmüller“ mit einer Hand zum Fenster hinaushält und ihn zwingt, „O Tannenbaum“ zu singen. Der Gast und Erzähler beginnt zu ahnen, dass Akrobaten in einer Welt außerhalb seines Berliner Pfefferkuchen-Horizonts zu Haus sind.

Der Jubiläumsshow des Weltweihnachtscircus gelingt ein besonderes Kunststück: Es vermittelt uns die Illusion, einige ihrer Frauen und Männer kämen aus dem ganz normalen Leben zu uns hereingeschneit – nur auf einen Sprung, um uns wenigstens emotional aus dem Fenster der Alltäglichkeit hinauszuhalten. Wir können ja eh nicht nachvollziehen, was es bedeutet, ohne Netz zwischen Himmel und Erde zu hängen. Ganz famos gelingt ein solcher Auftritt den Russinnen Elena Petrikova und Elena Baranenko als Duo Black & White. Die eine schwarz, die andere blond, betreten sie in High Heels und luftiger Abendgarderobe die Manege, als kämen sie nach getaner Arbeit in einem gläsernen Büroturm aus einer guten Bar – um dann an Tüchern zu entschweben und gefährlich und betörend in schwindelnder Höhe zu tanzen.

Ähnliches führen uns die Schweden Elinar und Anton als Duo Sons auf dem Koreanischen Sprungbrett vor. In ihrer Straßenkleidung wirken die Männer auf den ersten Blick so entspannt und bodenständig, als hätten sie sich nie mit der Erdanziehungskraft angelegt. Als wollten sie sagen: Wir sind Menschen aus Fleisch und Blut, höchstens im Fleischbereich etwas besser geübt. Diese Jungs von nebenan fliegen sehr hoch und schlagen Salti, dass man das Lieblingswort des neuen Moderators Björn Gehrmann nicht mehr als Floskel deuten will: „atemberaubend“, bekannt auch als „atemraubend“. Der Mann im roten Frack erledigt seinen Job im Übrigen rhetorisch souverän und bewegt sich, tänzerisch vorgebildet, recht geschmeidig.

Eine besonders liebenswerte Verbeugung vor der Zirkusgeschichte sind die turbulenten Zwischenspiele des niederländischen Musikquintetts Släpstick. Mit ihren Gauklerklamotten könnten sie auch aus Brechts „Dreigroschenoper“ oder einer Schaubude des alten Rummelplatzes kommen. Ihr Stepptanz mit Holzpantoffeln, Schlittschuhen und Skiern ist so hinreißend, dass man mit dem großen russischen Clown Andrey Jigalov das Victory-Zeichen formen und in seine garantiert nicht subventionierte James-Brown-Hommage einstigen möchte: I feel good . . .

Jede Nummer im Weltweihnachtscircus ist eine Weltwundernummer, auch die Akte mit den Tieren: Löwen, Tiger, Kamele, Pferde. 2019 tritt das „Wildtier“-Verbot in der Manege in Kraft. Im Namen der Menschlichkeit haben kulturpolitisch beschlagene Stadträte das Ende einer historischen Zirkuskultur verfügt. Auch danach werde ich, falls nicht aus dem Netz gefallen, vor der Show am Fluss entlangstiefeln und aller politischen Heuchelei zum Trotz mit den toten Fischen singen: I feel good.





 

Auswahl


Depeschen 2311 - 2318

Depeschen 2281 - 2310

Depeschen 2251 - 2280

Depeschen 2221 - 2250

Depeschen 2191 - 2220

Depeschen 2161 - 2190

Depeschen 2131 - 2160

Depeschen 2101 - 2130

Depeschen 2071 - 2100

Depeschen 2041 - 2070

Depeschen 2011 - 2040

Depeschen 1981 - 2010

Depeschen 1951 - 1980

Depeschen 1921 - 1950

Depeschen 1891 - 1920

Depeschen 1861 - 1890
16.12.2017

15.12.2017

13.12.2017
12.12.2017

10.12.2017

09.12.2017
08.12.2017

07.12.2017

04.12.2017
02.12.2017

30.11.2017

28.11.2017
25.11.2017

23.11.2017

21.11.2017
18.11.2017

17.11.2017

16.11.2017
14.11.2017

11.11.2017

08.11.2017
07.11.2017

04.11.2017

03.11.2017
28.10.2017

27.10.2017

26.10.2017
24.10.2017

20.10.2017


Depeschen 1831 - 1860

Depeschen 1801 - 1830

Depeschen 1771 - 1800

Depeschen 1741 - 1770

Depeschen 1711 - 1740

Depeschen 1681 - 1710

Depeschen 1651 - 1680

Depeschen 1621 - 1650

Depeschen 1591 - 1620

Depeschen 1561 - 1590

Depeschen 1531 - 1560

Depeschen 1501 - 1530

Depeschen 1471 - 1500

Depeschen 1441 - 1470

Depeschen 1411 - 1440

Depeschen 1381 - 1410

Depeschen 1351 - 1380

Depeschen 1321 - 1350

Depeschen 1291 - 1320

Depeschen 1261 - 1290

Depeschen 1231 - 1260

Depeschen 1201 - 1230

Depeschen 1171 - 1200

Depeschen 1141 - 1170

Depeschen 1111 - 1140

Depeschen 1081 - 1110

Depeschen 1051 - 1080

Depeschen 1021 - 1050

Depeschen 991 - 1020

Depeschen 961 - 990

Depeschen 931 - 960

Depeschen 901 - 930

Depeschen 871 - 900

Depeschen 841 - 870

Depeschen 811 - 840

Depeschen 781 - 810

Depeschen 751 - 780

Depeschen 721 - 750

Depeschen 691 - 720

Depeschen 661 - 690

Depeschen 631 - 660

Depeschen 601 - 630

Depeschen 571 - 600

Depeschen 541 - 570

Depeschen 511 - 540

Depeschen 481 - 510

Depeschen 451 - 480

Depeschen 421 - 450

Depeschen 391 - 420

Depeschen 361 - 390

Depeschen 331 - 360

Depeschen 301 - 330

Depeschen 271 - 300

Depeschen 241 - 270

Depeschen 211 - 240

Depeschen 181 - 210

Depeschen 151 - 180

Depeschen 121 - 150

Depeschen 91 - 120

Depeschen 61 - 90

Depeschen 31 - 60

Depeschen 1 - 30




© 2007-2024 AD1 media ·