Bauers Depeschen


Mittwoch, 08. November 2017, 1869. Depesche



 



FLANEURSALON IN MÖHRINGEN

Am Donnerstag, 16. November, ist der Flaneursalon im Möhringer Bürgerhaus, direkt am Bahnhof, Beginn 20 Uhr. Mit Thabilé & Steve Bimamisa, Loisach Marci und Timo Brunke. Vorverkaufskarten gibt es in der Möhringer Volksbank in der Filderbahnstraße - Reservierungen sind per E-Mail möglich: vgrosser@gmx.de.



8. November - aus gegebenem Anlass:

ERMORDET, TOTGESCHWIEGEN - STUTTGARTER SPUREN

Einen Teil der folgenden Geschichte, die ich 2015 aufgeschrieben habe, verdanke ich wie so oft Kommissar Zufall. Diesmal allerdings in Gestalt eines echten Bullen.

Michael Kühner (69), einst Stuttgarts stellvertretender Polizeipräsident, ist im Westen der Stadt aufgewachsen, in der Lerchenstraße 52 am Rosenbergplatz. Sein Vater, in der Gegend von Heilbronn geboren, war als Schiffsmechaniker zur See gefahren und danach in die Fremdenlegion eingetreten. Dort ließ er sich zum Fechtmeister ausbilden und heuerte später als Trainer in Stuttgarter Sportvereinen an.

Wir treffen uns in der Nähe des Kühner’schen Elternhauses, im ehrwürdigen Café Stöckle am Lerchenplätzle. Der ehemalige Kriminalbeamte hat das 2015 eröffnete Polizeimuseum in der Hahnemannstraße mitbegründet, zuvor viele Jahre mit Recherchen über die Nazi-Diktatur verbracht. Aber erst 2007, beim Herumblättern in einem Buch, hat er erfahren, mit wem er einst unter einem Dach gewohnt hat. Wer der Onkel seines Schulkameraden Karl-Heinz war.

Das Back- und Sandsteingebäude Lerchenstraße 52 hat den Krieg nahezu unversehrt überstanden. Bis Ende der fünfziger Jahre wohnten in diesem Haus auch der Metzger Karl Hirth, seine Frau Maria, ihre Söhne Franz, geboren 1928, und Karl-Heinz, geboren 1948. Die Hirths waren in den dreißiger Jahren nach Stuttgart gezogen. Maria war eine von drei Schwestern des schwäbischen Widerstandskämpfers und Hitler-Attentäters Johann Georg Elser, geboren 1904 in Hermaringen, aufgewachsen in Königsbronn bei Heidenheim.

Kein Wort, sagt Kühner, habe man im Haus je über Elser verloren. Weder die Eltern noch die Nachbarn: Keiner hat den Namen erwähnt, nie wurde auch nur angedeutet, dass Maria Hirth die Schwester des Widerstandskämpfers war. Alle taten so, als wüssten sie nichts. Dabei hatten die Leute in der Lerchenstraße alles mitbekommen.

Am 6. November 1939 besucht Georg Elser seine drei Jahre jüngere Schwester. Er übernachtet in der Wohnung, nachdem er mit seinem Schwager in einer Kneipe ein Bier getrunken hat. Maria gibt ihm 30 Reichsmark für eine Fahrkarte, als er andeutet, er wolle „über den Zaun“ in die Schweiz. Warum, sagt er nicht. Als er am 7. November geht, hinterlässt er in der Lerchenstraße einen Koffer mit Spezialmeißeln, Bohrern, Zeichnungen. Elser ist Kunstschreiner, ein begabter Tüftler.

Am 8. November 1939 um 21.20 Uhr detoniert im Münchner Bürgerbräukeller eine Bombe, gezündet von einem Uhrwerk. Georg Elser hat diese „Höllenmaschine“ gebastelt und in Nachtschichten in einer Säule eingebaut. Er will Hitler töten. Aufgrund des schlechten Wetters verlässt der „Führer“ 13 Minuten früher als geplant den Saal. Sein Flugzeug wartet. Die Bombe geht zu spät hoch, sie tötet acht Menschen. Elser hat man bereits vor der Explosion an der Schweizer Grenze verhaftet. Er gesteht. In den Verhören der Nazis sagt er, nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen habe er weiteres Blutvergießen verhindern wollen.

Wenige Tage später werden Maria Hirth und ihr Mann von der Gestapo festgenommen. Ihre Wohnung wird durchsucht, der Koffer gefunden. Sie werden nach Berlin gebracht, der Gestapo-Chef Heinrich Müller verhört sie. Der elfjährige Franz wird nach der Schule von der Gestapo abgeholt, muss stundenlang beim Pförtner der Stuttgarter Gestapo-Zentrale im früheren Hotel Silber warten, bevor man ihn im Kinderheim in der Türlenstraße abliefert.

Eine weitere Schwester Elsers, Anna, lebt damals mit ihrem Mann Fritz Hangs in Zuffenhausen. Am 13. November werden sie festgenommen und ins Gefängnis in der Büchsenstraße gesperrt. Anna Hangs wird erst nach einer Woche verhört und mit ihrem Mann nach Berlin transportiert. Auch weitere Familienmitglieder auf der Ostalb, darunter Elsers Bruder Leonhard und die Schwester Friedrike Kraft, werden in Stuttgart inhaftiert. Es gilt als sicher, dass die Nazis sie vor dem Weitertransport nach Berlin im Hotel Silber verhörten. Ende November 1939 werden sie freigelassen, eine Mittäterschaft gab es nicht. Am 9. April 1945 ermordeten die Nazis den schwäbischen Widerstandskämpfer Georg Elser im KZ Dachau.

1989, fünfzig Jahre nach Georgs Elsers Attentat, fuhr ich nach Königsbronn, begleitet von meinem Vater Hans, geboren 1914 in Königsbronn. Ohne ihn hätte niemand im Dorf mit mir über Elser geredet. Wir stießen auf eine Mauer des Schweigens. Erst wenn jemand Leute meinen Vater erkannt hatten, kam es zu Gesprächen mit Zeitzeugen - auch mit Leonhard Elser, einem verbitterten Mann. „Den Stauffenberg ehren sie jedes Jahr“, sagte er, „den Georg nie.“ Der Widerstandskämpfer Elser, ein einsamer Held aus dem Proletariat, blieb in Deutschland jahrzehntelang fast unbekannt. Erst ermordet, dann totgeschwiegen. Man wollte nichts davon hören, dass ein einfacher Mann in der Lage war, sich gegen die Nazis aufzulehnen.

Nach dem 50. Jahrestag des Attentats änderte sich langsam etwas. Ein Film des Regisseurs und Schauspielers Klaus Maria Brandauer, „Elser – einer aus Deutschland“, zeigte Wirkung. Vor dem Kinostart hatte ich mich lange mit Brandauer unterhalten. Er erzählte mir, wie misstrauisch ihm die Menschen in Königsbronn begegnet waren, wie wenig in der deutschen Öffentlichkeut von Elser bekannt war. Nach seinem Film dauerte es noch einmal zehn Jahre, bis die Stadt Stuttgart Georg Elser eine Staffel widmete, in der Nähe der Villa Reitzenstein und der Richard-Wagner-Straße, die vor den Nazis Heinrich-Heine-Straße geheißen hatte.

Mit dem ehemaligen Polizisten Michael Kühner gehe ich in den Hinterhof der Lerchenstraße 52. Er weiß noch, wo unten im Haus ein Schuster gearbeitet hat, durch welches Fenster die Kohlenrutsche in den Keller führte. "Elser war Kommunist", sagt Kühner, "und mit Kommunisten wollten die Leute auch nach dem Krieg nichts zu tun haben."





 

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