Bauers Depeschen


Donnerstag, 30. November 2017, 1879. Depesche



 



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MUSIK ZUM TAG



Die aktuelle StN-Kolumne:

AM ABGRUND

Manchmal, wenn ich keine Zeit oder Muße zum Spazierengehen finde, schaue ich an die Decke und stiefle in Gedanken durch die Stadt und die Welt. Oder lasse mich in etwas hineinziehen, willenlos und damit zufrieden, nicht mehr bei mir selbst zu sein.

Zuletzt habe ich mir in der Spaziergängerpause Folgen der Fernsehserie „Babylon Berlin“ angeschaut. Nichts ist so verführerisch wie das kunstvolle Spiel mit Macht, Verrat und Angst. Vor der Glotze habe ich Sex- und Drogenräusche erlebt in einer bildgewaltigen Düsternis, die mir im Angesicht des Verbrechens die Welt erhellt. Vor allem im November.

Die deutsche „Babylon“-Serie spielt im Berlin Ende der wilden Zwanziger, wenige Jahre bevor die Nazis an die Macht kommen. Wir erfahren, warum die Mächtigen immer auch von der Angst der Ohnmächtigen leben. Keine Frage, dass dieser Stoff auch auf die deutsche Gegenwart zielt, auf Orientierungslosigkeit, Rechtsruck und Verschwörungsstimmung. Und immer noch hoffe ich, dass sich bald jemand auch die Zwanziger in den Abgründen der Provinz vornimmt – in Stuttgart, wo sich während der Weimarer Republik betörende und verstörende Geschichten abgespielt haben. Bis heute warten sie auf ihre Aufarbeitung. Die Sicht auf Parallelen wäre hilfreich für ein besseres Verständnis der heutigen Lage. Nicht nur im November.

Vielleicht darf man auf eine Auseinandersetzung mit den Zwanzigern hoffen, wenn das Haus der Geschichte das Jubiläum „50 Jahre 68“ abgehandelt und das Stadtmuseum seine Verbeugung vor der sogenannten Popkultur geleistet hat. Der schwammige Begriff „Popkultur“ taucht inzwischen so inflationär auf, dass man ihn nicht mehr hören kann. Vielleicht spricht es sich irgendwann herum, wie antiquiert es ist, die Kultur in den Städten immer noch in Schubladen zu stecken – und das befruchtende Zusammenspiel verschiedener Welten zu blockieren. Richtig peinlich und provinziell wird es, wenn Stadträte nach wie vor von „Hochkultur“ und „Subkultur“ reden und zur Geldgießkanne greifen, weil sie nicht in der Lage sind, über Schwerpunkte im Kulturbetrieb der Stadt zu diskutieren und dann zu handeln. Ihren Privatgeschmack können sie unterdessen getrost in ihrer Freizeit ausleben. Für die Subventionspolitik ist er so hilfreich wie ein ­All-inclusive-Ausflug nach Gran Canaria zur Erklärung der Globalisierung.

„Babylon Berlin“ wurde gedreht, bevor sich im heutigen Berlin ein wenig Regierungsbabylon ausgebreitet hat. Zurzeit weiß ja keiner mehr, wer in der allgemeinen Sprach- und Gesinnungsverwirrung regiert. Die stolpernde Endloskanzlerin oder ein Unkrautrocker aus der Glyphosatbrauerei namens Schmidt. Und alles spricht wieder für die Groko, die Große Kakofonie.

Babylon an sich ist ein erregendes Phänomen, stellt sich allerdings noch lange nicht ein, weil ein Stuttgarter Doppel­Abgeordneter namens Fiechtner mal austreten muss – diesmal aus seiner Partei, weshalb er gerade als Fliege tragender Populismus-Popper durch die Medien geistert. Soll er. Aber Achtung: Wir wissen, dass die AfD-Affären den Rechtsnationalen und dem braunen Sumpf in ihrer Umgebung bisher nicht geschadet haben.

Babylon hat eine andere Dimension als nur ein Unort, das Örtchen oder der Weihnachtsmarkt und taugt 2017 als Überschrift für meinen Jahresrückblick, den ich hiermit leiste. Ergebnis: Alles war wie immer. Die Evangelische Landessynode zeigt gegenüber Lesben und Schwulen eine Christenmoral nach dem Vorbild Sodom und Gomorrha. Der Diesel stinkt weiterhin hinauf zu allen Gipfeln. S 21 wird Stuttgart 31 000 000 000. Und das babylonische Sprachgewirr im Rathaus nimmt kein Ende. Kaum wurde ich belehrt, im Giftkessel gelte zur Täuschung der Bürger nur noch das Dummdeutschwort „Luftreinhaltetag“, sitze ich mit Fresspaket und Wolldecke im Bunker, weil die Rathausfeuerwehr schon wieder „Feinstaubalarm“ gegeben hat. Warum eigentlich gibt es in der Stadt noch keinen psychedelischen Popclub namens Feinstaub? In Frankfurt am Main bin ich mal an einem solchen vorbeimarschiert.

Damit kehre ich zurück auf die Straße und kann endlich die gescheiten Sätze des amerikanischen Schriftstellers und Spaziergängers H. D. Thoreau loswerden. Das Spazieren, hat er gesagt, sei „die wichtigste Unternehmung, das Abenteuer des Tages“. Man müsse „spazieren wie ein Kamel, das, wie man hört, das einzige Tier ist, das in der Fortbewegung wiederkäut“. Das werde ich ausprobieren. Durch die Gegend schlurfen wie ein arbeitsloses Kamel aus dem Zirkus und trotz Wildtierverbots alles wiederkäuen, was ich das ganze Jahr in mich hineingefressen habe, ohne auszutreten, jedenfalls nicht final.

Und damit hinaus ins Abenteuer nach Berg und Botnang, nach Büsnau und zum Bopser. Babylon ist überall.



 

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