Bauers Depeschen


Donnerstag, 26. Oktober 2017, 1863. Depesche

 

FLANEURSALON LIVE

Am 16. November sind wir auf Einladung im Bürgerhaus Möhringen: Thabilé & Steve Bimamisa, Loisach Marci und Timo Brunke. Karten gibt es 14 Tage vor der Veranstaltung bei der Volksbank Möhringen, Filderbahnstraße 26.

Für unseren Abend am 12. Dezember im Schlesinger gibt es inzwischen Karten am Tresen des Lokals. Es machen mit: Stefan Hiss, Timo Brunke, Thabilé & Steve Bimamisa.



Hört die Signale!

MUSIK ZUM TAG



Die aktuelle StN-Kolumne:

STELLWERK DER WELT

Sommerliches Sonntagswetter stimmt mich so übermütig, dass ich in Herrenberg auf den Fußballplatz gehe und mir eine Weile das Spiel des heimischen Teams gegen Bondorf anschaue. Weil es aber schon früh 3:0 für die Gastgeber steht, stiefle ich weiter und frage – von zwei Minaretten angelockt – drei Türken, ob ich ihre Moschee besichtigen dürfe. Ich darf und ziehe meine Schuhe aus. Der schöne Gebetsraum für etwa 200 Menschen riecht noch sehr neu, und als ich wieder herauskomme, sehe ich in der Nachbarschaft das Holzkreuz am Gebäude des Hilfswerks der Samariter.

So schnell und mühelos wechselst du vor deiner Haus- und Heimattür die Welten. Was ich zuvor in einem Raum des Herrenberger Hotelkomplexes Botenfischer gesehen habe, sprengt allerdings meine Vorstellungskraft. Und weil es mir zu schwierig erscheint, für eine Kolumne über diese irrwitzige Welt einen Anfang geschweige denn ein Ende zu finden, ziehe ich einen Eingeweihten zurate. Deshalb beginnt meine kleine Geschichte über ein Wunderwerk menschlicher Kompromisslosigkeit und Virtuosität im Stuttgarter Nordbahnhofviertel, wo der Künstler und Autor Harry Walter (64) in einem der Eisenbahnerhochhäuser aufgewachsen ist.

Der kleine Harry, neun oder zehn Jahre alt, betrachtet vom Balkon im neunten Stock die vorbeifahrenden Züge einfach als Vehikel einer gigantischen Modelleisenbahn und lenkt sie imaginär mit echten Fleischmann-Transformatoren. Dieses Spiel rührt von der Tatsache her, dass sein Vater aus unerfindlichen Gründen die real existierende Modelleisenbahn im Haus nicht mehr aufbauen will. Womöglich spürt Harry schon damals, was es bedeutet, an den Hebeln des Stellwerks dieser Welt zu sitzen.

Seit einiger Zeit ist in Herrenberg unter dem Titel „Stellwerk S“ eine Anlage ausgestellt, der nicht ansatzweise gerecht wird, wer sie in die Schublade „Modelleisenbahn“ steckt. Tatsächlich handelt es sich um eine gigantische Stuttgart-Miniatur. Der Handwerker und Erfinder Wolfgang Frey hat sie im Maßstab 1:160 so getreu nachgebaut, dass jedes Gebäude, jede Oberleitung und sogar das eine oder andere Grab auf dem Pragfriedhof der Wirklichkeit entspricht. Üblicherweise reden wir in einem solchen Fall von Detailbesessenheit. Entschieden näher kommt man dieser weltweit einzigartigen Unternehmung mit dem Wort Kunst.

Harry Walter beschäftigt sich seit vielen Jahren mit diesem Werk, ohne dem Schöpfer, einem Autodidakten, je begegnet zu sein. Wolfgang Frey stirbt 2012 mit nur 51 Jahren an seinem Herzleiden, das ihn zuvor nicht davon abgehalten hat, seit 1978 Tag und Nacht an der Erschaffung seiner imitierten Welt zu arbeiten. Zuerst schuftet er zu Hause – und von 1982 an ununterbrochen im Untergrund, in einer Werkshalle hinter einer Metalltür in der U-Bahnstation Schwabstraße. Die Deutsche Bahn hat ihm diesen Raum, der sein Atelier und womöglich auch sein Gefängnis wurde, zur Verfügung gestellt. „In einem vollkommen von der Außenwelt abgeschotteten Hobbybunker träumte Wolfgang Frey den alten Künstlertraum, die Welt noch einmal schaffen zu dürfen“, sagt Harry, den ich nicht ohne Grund in meinem aushäusigen Besprechungszimmer namens Café Stöckle am Hölderlinplatz treffe. Einige Jahre hat er nebenan in der Lerchenstraße gewohnt. In unserem Gespräch geht es um magische Orte, um ihre Verbindung zu Menschen, um Erinnerungen und ihren Einfluss auf die Gegenwart.

Wolfgang Frey hat die Grenzen von Vergangenheit und Gegenwart ausgeblendet und konsequent daran gearbeitet, die Zeit anzuhalten. Mit seiner Kamera macht er Tausende von Fotos. Mehr als 30 Jahre lang modelliert er sein Stück Stuttgart, ohne die Veränderungen der Stadt in seinem Werk ständig berücksichtigen zu können. Er beginnt mit dem Nachbau des Hauptbahnhofs und weitete sein Modell allmählich bis zum Löwentor im Norden und zum Neckar in Cannstatt aus, als die Verstümmelungen des Bonatz-Baus durch Stuttgart 21 bereits Realität sind.

Für die Nachwelt erscheint es mir typisch, dass wir dieses von Hand erbaute Stuttgart als Skulptur nur außerhalb unserer Stadt zu sehen bekommen. In Herrenberg, wohin es der Unternehmensberater Rainer Braun nach dem Kauf der Anlage gebracht und dankenswerter Weise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Auch er hat einst für die Bahn gearbeitet, wie sein Vater und Großvater. Er betrachtet es als Pflicht und Herausforderung, Wolfgang Freys Kunstwerk nicht ins Museum zu verfrachten, sondern für dieses Kunstwerk ein kleines Museum zu schaffen. Aus Platzgründen sind bisher nur etwa 65 Prozent des Werks in der Herrenberger Nagolder Straße aufgebaut: 250 Loks, 1000 Züge, 500 Gebäude.

Dem Leben und Denken des Handwerkgenies Wolfgang Frey kommt man vielleicht etwas näher, wenn man weiß, dass er auch seinen früheren Arbeitsplatz im Hauptstellwerk nachgebaut hat – und zwar 1:1 in seinem Unter-Tage-Atelier. „Irgendein Verrückter in mir“ habe ihn dazu überredet: „Anhand solch einer Anlage waren alle Eingaben zu überwachen, und die Zugnummern konnten angezeigt werden“, hat er in einem Aufsatz für das Miniaturbahnen-Magazin „Miba Anlagen“ geschrieben.

Harry Walter sagt: „Stellt man sich die Modellanlage als eine verschlossene Wirklichkeit und das Stellwerk als den Kontrollraum vor, von dem aus diese Wirklichkeit gesteuert wird, so ist Wolfgang Frey das Kunststück gelungen, in der von ihm geschaffenen Welt der einzige kompetente Bewohner zu sein.“ Solche Gedanken sollen nicht ohne Folgen bleiben: Der Autor plant ein Buch über Wolfgang Frey. Darin soll es neben dem Blick auf ein obsessives Tüftlerschaffen vor allem darum gehen, künstlerische, philosophische und literarische Zusammenhänge aufzuzeigen.

Die wahre Dimension der Modelleisenbahnanlage wird man erst durch die Auseinandersetzung mit Wolfgang Freys radikaler Arbeit in einer Schattenwelt verstehen können. Was aber nicht heißen soll, der Besuch der Ausstellung „Stellwerk S“ erfordere geistige Schwerstarbeit. Die Präsentation in den Räumen neben einem kleinen Restaurant ist ein Abenteuer: Nach ungläubigem Kinderaugenstaunen mache ich mich wie elektrisiert auf die Suche nach Dingen, die mir aus der Wirklichkeit nahe sind – oder einmal nahe waren, aber inzwischen verschwunden sind. Alles ist unecht und doch echt. Wahnsinn. Ein besseres Wort fällt mir am Ende nicht ein.





 

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