Bauers Depeschen


Mittwoch, 28. Dezember 2016, 1719. Depesche

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LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



DIE NACHTIGALL

Wir sind jetzt „zwischen den Jahren“, wobei diese Beschreibung blanker Unsinn ist. Kein Mensch kann zwischen die Jahre geraten wie ein Korn zwischen zwei Mühlsteine oder ein Stück Hackpampe zwischen zwei Hamburger-Deckel. Wenn das Jahr zu Ende geht, böllern die Menschen wie verrückt, und dann fängt ein neues an, was viele nicht mehr mitkriegen, weil sie zu viel geballert haben.

In Wahrheit gibt es keine Sekunde Pause zwischen altem und neuem Jahr – auch wenn man die Tage von Weihnachten bis Silvester noch so hartnäckig mit der Redewendung „Zwischen den Jahren“ adelt, um ein Urlaubsargument zu finden.

Diese Erkenntnis ändert nichts daran, dass ich kurz vor diesen Faulenzertagen in der Stille der Stadt herumlief. Am ersten Weihnachtstag bewege ich mich wie ein Jogger – und immer der Nase nach, ohne Ziel. Morgens kurz nach acht bin ich im Westen aufgebrochen. Durch den völlig verlassenen Schwabtunnel, den vergifteten Autoschlund, trabe ich nach Heslach und später zurück. Gut 70 Minuten bin ich im Laufschritt unterwegs und begegne kaum mehr als einem halben Dutzend Autos. Von den üblichen Giftgas­angriffen im Kessel halbwegs verschont, überquere ich irgendwann zu meiner Überraschung den Nesenbach in seiner abenteuerlichen, fast wild anmutenden Umgebung. Ich dringe bis zum Reich der Gartenfreunde Heslach vor – und salutiere gehorsamst angesichts der Deutschlandfahnen. Die obligatorischen Flaggen der Kleingärtner wollen uns vermutlich erzählen, dass deutsche Erde mit deutschem Regen begossen wird von deutschen Wolken, die der deutsche Wind von Afrika in deutsches Land geweht hat. Heslach, richtig ausgesprochen „Häslach“, ist einer unserer aufregendsten Bezirke. Dank meines schlechten Orientierungssinns staune ich immer wieder über Gegenden, als sähe ich sie zum ersten Mal. Auch diesmal geht mir bei ihrem Anblick das Herz auf, was keineswegs von der strapazierten Pumpe eines alternden Herumläufers herrührt.

Seit jeher bewundere ich die Backsteinhäuser in der Burgstallstraße, im Böhmisreuteweg oder in der Hahnstraße, von der man nicht einmal weiß, welcher Vogel hinter ihrem Namen steckt.

Joggen ist für den Stadtspaziergänger nicht so ergiebig wie der aufrechte Müßiggang, weil ich unterwegs keine Beobachtungen in mein Notizbuch kritzeln kann und hinterher nur noch selten weiß, wie ich in Straßen zurückfinden soll, deren Namen ich vergessen habe. Geblieben ist mir von meiner Tour vor allem die Szene vor einer Kirche: Eine junge Frau mit zwei Kindern hat dem schwitzenden Trottel mit seiner alten Kapuzenjacke und seiner Wollmütze mit der Aufschrift „Ramones“ ohne erkennbaren Zynismus „Fröhliche Weihnachten“ zugerufen. Das war in Südheim im Nachtigallenweg – wo sonst könnte man am Weihnachtsmorgen eine so betörende Stimme vernehmen?

Am zweiten Weihnachtstag dann der Katzensprung per S-Bahn nach Vaihingen. Vor dem Bahnhof die Vollmoellerstraße, benannt nach der Familie der einstigen Vaihinger Trikotagenfabrik, die bis 1971 auf dem Gelände des heutigen Hotels Pullman stand. In meiner Kolumne (vom 30. November) habe ich darüber berichtet, vorwiegend über den 1878 in Stuttgart geborenen Sohn Karl Gustav Vollmoeller, das vergessene Genie. Er war Dichter, Dramatiker, Drehbuchautor („Der Blaue Engel“), Weltbürger, Kulturmanager, Diplomat, Lebemann, Autorennfahrer. Und der einzige der sozial fortschrittlichen Fabrikantenfamilie Vollmöller, der seinen Nachnamen mit „oe“ schrieb, aus gutem Grund: Viele Jahre arbeitete er in den USA, vor allem in New York und in Los Angeles. 1948 starb er in Hollywood. Drei Jahre später ließ die legendäre Berliner Schauspielerin Ruth Landshoff-Yorck seine sterblichen Überreste auf den Stuttgarter Pragfriedhof ins bis heute bestens gepflegte Familiengrab überführen.

Die Vaihinger „Vollmoellerstraße“ ist also falsch geschrieben – und über den großen Sohn Karl in Stuttgart sträflicherweise so gut wie nichts bekannt. Das Leben dieses kosmopolitischen Abenteurers birgt viele schillernde Kapitel, auf die nur eine Stadt verzichten kann, die ihre Geschichte gern ignoriert. Es ist Zeit, das Leben Karl Gustav Vollmoellers öffentlich aufzuarbeiten und darzustellen. Da schlummert sehr viel unglaublicher, oft auch umstrittener, auf jeden Fall höchst aufschlussreicher und unterhaltsamer Stoff – mit unzähligen berühmten Namen wie Max Reinhardt, Greta Garbo, Charlie Chaplin, Billy Wilder, Marlene Dietrich. Sein literarischer Nachlass lagert übrigens im Deutschen Literaturarchiv Marbach, und vielleicht findet sich ja jemand mit Lust und Neugier auf die spannenden Dinge, die diese Stadt in den Pausen zwischen ihrem Einkaufs- und ­Baustellenrummel zu erzählen hat.

Weihnachten ging dem Ende zu, als ich nach einem Spaziergang durch den Vaihinger Ortskern neben den Gleisen im Wirtshaus Zum Alten Bahnhof einkehrte, einer ziemlich bekannten, weil heimeligen Bahnhofswirtschaft. Als ich mich setze, läuft auf dem Bildschirm an der Wand ein Film über ein Konzert des britischen Popsängers George Michael. Nach einer Weile sehe ich, dass die Doku von seiner Benefiz-Show zugunsten der Aidshilfe 2012 in der Opéra Garnier handelt, dem ersten Auftritt eines Popstars in diesem Pariser Opernhaus überhaupt. Leider habe ich diesen berühmten Originalschauplatz des „Phantoms der Oper“ nie von innen gesehen; doch auch für den Herumstiefler im Vaihingen ist das Haus leicht zu erkennen an Marc Chagalls berühmtem Deckengemälde aus den sechziger Jahren.

Die Nachricht von George Michaels Tod mit 53 Jahren am ersten Weihnachtsfeiertag war noch relativ frisch. Als ich den Wirt frage, was es mit dem Film auf sich habe, sagt er, diese Doku habe er an diesem traurigen Tag auf YouTube für sich ausgesucht: George Michael, getauft auf den Namen Georgios Kyriakos Panagiotou, sei schließlich der Sohn eines griechisch-zypriotischen Vaters. Der Wirt im Wirtshaus Zum Alten Bahnhof ist Grieche und die Welt nicht nur zwischen den Jahren klein.



FLANEURSALON IM GUSTAV-SIEGLE-HAUS

Im Gustav-Siegle-Haus gibt es im 1. Stock einen kleinen, feinen Saal, der in Vergessenheit geraten ist. Schöne Bühne, Platz für 150 Gäste. Vor mehr als 15 Jahren hab ich dort mal eine Veranstaltung gemacht - und mich jetzt daran erinnert. Am 20. Februar 2017 machen wir in dieser Kronleuchter-Kulisse, mitten im Leonhardsviertel, einen Flaneursalon - mit Stefan Hiss, Marie Louise & Zura Dzagnidze; durch den Abend führt Timo Brunke. Es ist die erste öffentliche Veranstaltung an diesem Ort seit langem. Der Vorverkauf läuft schon: online: KARTEN FÜRS SIEGLEHAUS - Telefon: 0711/2 555 555



 

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