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Freitag, 13. Januar 2017, 1724. Depesche



 



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LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



DER VULKAN

Der Begriff „weltfremd“ ist gerade groß in Mode, um politisch unliebsame Zeitgenossen als ahnungslos, naiv oder dumm abzukanzeln. Ich kann mit dieser Art Beleidigung nichts anfangen, weil ich nicht weiß, welche Welt diese Weltmeister meinen, wenn sie behaupten, allein sie könnten die Welt meistern.

Ich bin ja ein Kleinweltenbummler, ein Spaziergänger, dem nichts Besseres passieren kann, als auch noch auf engstem Radius fremde Welten zu entdecken. In der Buchhandlung Steinkopf kaufte ich mir eher zufällig ein Buch des großen russischen Schriftstellers Iwan Turgenjew. Im 19. Jahrhundert lebte er etliche Jahre in Baden­-Baden und besuchte mehrfach auch Stuttgart, unter anderem seinen Kollegen Eduard Mörike und seinen Übersetzer Moritz Hartmann, damals Redakteur der Zeitschrift „Freya“.

Bei Steinkopf in der Fritz-Elsas-Straße fand ich auch einen 1989 veröffentlichten Bildband des früheren Stadtarchivars Paul Sauer: „Stuttgart in den zwanziger Jahren“. Zu jener Zeit saß der Namensgeber der Straße, der jüdische, 1890 in Cannstatt geborene Politiker Fritz Elsas, als linksliberaler Abgeordneter im Württembergischen Landtag. Später schloss er sich dem Widerstand gegen die Nazis an – am 4. Januar 1945 wurde er im KZ Sachsenhausen ermordet.

Es muss an meiner Weltfremdheit liegen, wenn ich wegen eines Buchladenbesuchs dermaßen abschweife, denn es kommt noch dicker: Nicht weit von der Fritz-Elsas­Straße, im Alten Schauspielhaus in der Kleinen Königstraße, wird zurzeit (und noch bis zum 4. Februar) die Revue „Ein Tanz auf dem Vulkan“ aufgeführt. Nachdem ich ein paar Mal an dem Theater vorbeigestiefelt war, ohne auf den Aushang zu achten, kaufte ich mir eine Karte – und landete mitten im Jetzt: Das Stück behandelt „Stuttgart und die zwanziger Jahre“ und stellt Bezüge nicht nur zur Gegenwart, sondern – wie weltfremd – auch zur Zukunft her.

In dieser klassischen Revue mit Showtreppe und Drehbühne, Kapelle und vielen Liedern taucht ein Kerl namens Lechler auf; mit seiner Deutschlandfahne über der Stuhllehne ist er unschwer als einer der neuen „völkischen“ AfD-Reaktionäre vom Typ Höcke zu erkennen. Der „Vulkan“ ist nach dem Prinzip „Theater im Theater“ angelegt: Auf der Bühne wird in den Zwanzigern des 21. Jahrhunderts ein Stück über die Zwanziger der 20. Jahrhunderts geprobt, als der Lechler, ein verkappter Zensor der neuen Regierung, hereinplatzt. Da hat sich eine gewisse Frau Merkel schon in die Uckermark abgesetzt – während die Rechten und Rassisten im Land ihr Unwesen treiben.

Die Revue haben der Schauspielbühnen-Intendant Manfred Langner und der Musiker/Komponist Horst Maria Merz auf die Bühne gebracht. Es ist ihnen hoch anzurechnen, dass diese schillernde Stuttgarter Ära endlich – und rechtzeitig vor den nächsten Zwanzigern – beleuchtet wird. Über formale und inhaltliche Details ihres Entertainments lässt sich zwar streiten – die Meinung aber, leichte Unterhaltung könne keine schweren Inhalte behandeln, wäre dumm und definitiv weltfremd.

„Ein Tanz auf dem Vulkan“ gehört geradezu zwingend in das 1909 eröffnete Schauspielhaus, wo der jüdische, aus Wien stammende Direktor Claudius Kraushaar Triumphe feierte, ehe ihn die Nazis vertrieben. Wofür dieses Theater in den Zwanzigern stand, beschreibt Paul Sauer: „Zu einem überwältigenden Erfolg wurde die ‚Dreigroschenoper‘, das Gemeinschaftswerk des Dichters Bertolt Brecht und des Komponisten Kurt Weill; es erlebte 120 Aufführungen. Die Texte von Brecht und die Songs von Weill prangerten das herrschende politische und soziale System an, rissen einen tiefen Graben zu der überkommenen Oper auf.“ Zum Schauspielhaus-Ensemble gehörten damals übrigens die Humoristen Willy Reichert und Oscar Heiler.

Im Programmheft zum „Vulkan“ findet sich dankenswerterweise ein informativer und unterhaltsamer Text des Historikers Jörg Schweigard, dessen 2012 erschienenes Buch ich schon öfter empfohlen habe: „Stuttgart in den Roaring Twenties. Politik, Gesellschaft, Kunst und Kultur in Stuttgart 1919–1933“. Seine Betrachtungsweise muss man nicht immer teilen, etwa wenn er die zwei schwäbischen Hitler-Attentäter, den Schreiner Georg Elser und den Wehrmachtoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg, auf einer Ebene sieht.

Doch erzählt uns das Buch auf hochinteressante Weise, warum das Stuttgart in den Zwanzigern mondäner und großstädtischer war als das heutige – vor allem im kulturellen Leben. In diesem Buch stecken so viele großartige Geschichten, so viele große Namen – von Josephine Baker bis Joachim Ringelnatz, von Willi Baumeister bis Clara Zetkin –, dass die Politiker und Manager einer Stadt wie Stuttgart schon ziemlich entrückt sein müssen, wenn sie ihre kleine Kesselwelt nicht mit Ausstellungen und anderen ­Projekten zu diesem Thema aufwerten. Die Stuttgarter Epoche der Zwanziger mit ihrem Nachkriegselend und den beginnenden Nazi-Verbrechen ist auch die Blütezeit fortschrittlicher Künstler – in der Architektur, in der Literatur, im Theater, im Varieté, in der Musik, in der bildenden Kunst. Furore machen visionäre Geister, die man heute mehr denn damals als weltfremd denunzieren würde.

Dieses Klima hat auch viel mit Karl Lautenschlager zu tun, einem aufgeschlossenen, liberalen Oberbürgermeister, in dessen Ära etwa die Weißenhofsiedlung (mit ihrem heutigen Weltkulturerbe) gebaut wurde. Ich bin nicht so weltfremd, personelle Vergleiche zwischen gestern und heute zu ziehen. Wundern aber darf ich mich schon, wenn dem amtierenden Oberbürgermeister zum Jahresende 2016 nichts Originelleres einfällt, als prophetenhaft über Stuttgart 21 zu verlautbaren: „Das Projekt wird der Stadt guttun.“

Zur Halbzeit seiner Amtszeit, vor allem ­angesichts der eklatanten Wohnungsnot als einer der Ursachen des Rechtsrucks, hätte der gern nichts sagende Realo wohl besser - und endlich mal - eine Grundsatzrede zum städtischen Leben an sich und zu Stuttgart im Speziellen gehalten. Vielleicht hilft ein kleines Lied der Revue, aus der Geschichte zu lernen: „Alles kommt einmal wieder . . .“



 

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