Bauers Depeschen


Dienstag, 11. August 2015, 1506. Depesche



 



NÄCHSTER FLANEURSALON (mit Buch-Präsentation): 18. Oktober, Theaterhaus.

Christine Prayon, Vincent Klink, Eva Leticia Padilla, Eric Gauhthier, Toba Borke & Pheel

Vorverkauf online: THEATERHAUS - Kartentelefon: 07 11/4020-720.



Der Klick zum

LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne "Joe Bauer in der Stadt"



ENTGIFTET

An der Straßenbahnhaltestelle Türlenstraße steigen die Primark-Tüten zu, gelegentlich kann man sogar die Gesichter ihrer Schlepper und Schlepperinnen sehen. Wie neulich, als vor meinen Augen der Boden eines Papierbeutels durchbrach und die fette Müllaneo-Beute unter dem Beifall der Passagiere im Waggon herumkullerte.

Schon altersmäßig zähle ich nicht zum Premium-Publikum der Einkaufszentren. Den Besuch dieser labyrinthischen Klötze fände ich ohnehin so logisch wie den Tipp, den besten Feierabend-Drink gebe es in den Massenbesäufniszelten auf dem Cannstatter Rummelplatz.

Manche Dinge in der Stadt nehme ich erst wahr, wenn ich sie zum tausendsten Mal sehe. Beispielsweise an der U-Bahn-Treppe Charlottenplatz den Kerl im geschmiedeten Wahrzeichen an der Weinstube Kiste, Kanalstraße. Der Mann schleppt tief gebeugt eine Holzkiste auf seinem Rücken.

Das Lokal am Rand des Bohnenviertels mit dem schönen, altertümlichen Namen „Restauration zur Kiste“ gilt als Stuttgarts älteste Weinstube, eröffnet 1846. Die Gäste in der holzgetäfelten Schwatzbude und vor dem Haus zählte man früher zu den Trollinger-Aristokraten: Juristen, Architekten, Intellektuelle, Unternehmer – Gestopfte. Kommt schon mal vor, dass einer von ihnen nach einigen Vierteln aufsteht und ungefragt dem Publikum erklärt, er habe vor seinem Rausschmiss als Aufsichtsrat des VfB nicht alles falsch gemacht.

Immer wieder bleibe ich an der kleinen Kanalstraße/Ecke Esslinger Straße mit großen Augen stehen: Dass es so etwas gibt! Diese Gasse mit ihren himmelwärts drängenden schmalen Häusern. Man sieht das Schild mit der heute extrem seltenen Aufschrift „Damen- & Herrenfriseur“, weiter hinten sitzen im Sommer muslimische Familien vor dem Persian Restaurant, daneben ist die Sushi Lounge. Und nicht vergessen: Neben der Kiste das 1983 eröffnete Schriftstellerhaus, eine Errungenschaft des kulturpolitischen Traumpaars Rommel & Späth. Bis heute zwingt der Laden die Gäste aus Platzgründen, das Fenster zu öffnen, wenn sie ihre Jacke ablegen wollen.

Die Esslinger Straße fiel weitgehend dem Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs zum Opfer. Der Historiker Harald Schukraft notierte in seinem Buch „Stuttgarter Straßen-Geschichte(n)“: „Nur zwei Gebäude überstanden den Krieg unversehrt: Die Häuser Nummer 42 und 44 an der Ecke zur Kanalstraße unmittelbar neben dem Weinlokal Zur Kiste. In Nummer 42 war damals die schon traditionelle Wirtschaft Postmichel untergebracht, wo man noch immer Alt Stuttgarts Vorkriegsromantik erleben konnte. Leider hat man diese intakte Altstadtecke Mitte 1958 eingerissen und durch ein modernes Gebäude ersetzt.“ Die Stuttgarter Modernität erkennt der versierte Zeitforscher heute sofort am Schaufenster des neuen Hauses: „Hair Lounge“.

Die Diskussion um den Sinn des Nebeneinanders von Alt und Neu in der Stadt wird bei uns erst gar nicht geführt. Dafür müsste ja im Rathaus mal ein Gedanke zur Stadtplanung und zum Städtebau aufkommen. Und jede kritische Bemerkung zu Stuttgart 21, dem prägenden, zerstörerischen Großprojekt, wird von den meisten Politikern überheblich als „gestrig“ abgetan, gerade so, als sei das Milliardenprojekt bereits mit der Volksabstimmung fertiggestellt worden. Als würde gar nicht mehr gebaut. Als wäre allein der „Tiefbahnhof“, diese U-Bahn-Marginalie im Milliardenspiel um die Immobilien, das gesteckte Ziel.

In Wahrheit haben die Wähler 2011 über eine Investition von 4,5 Milliarden Euro für Stuttgart 21 abgestimmt – eine Summe, die längst um mehrere Milliarden überschritten wurde, die im Nachhinein die Volksabstimmung zur Farce macht; politisch ist sie nicht mehr bindend. Geht es aber nach dem Willen der großen Lobby-Koalition im Rathaus, ist Stuttgart 21 kein Thema mehr, auch wenn noch nicht mal ansatzweise zu erkennen ist, wie die Stadt in ein paar Jahren aussehen wird. Stadtplanung zu Gunsten der Menschen findet nicht statt, wird mangels politischer und kultureller Kompetenz verweigert, die ­Wohnungsnot seit Jahren missachtet. Amtlich bejubelt werden die immer selben Investorenkästen: teure Hotels plus Luxusapartments.

Und wenn vom Erfolg oder Misserfolg der neuen Konsumwelt die Rede ist, als hinge davon das Heil dieser Welt ab, fällt kein Wort über die Arbeitsbedingungen im Einzelhandel, über die vielen prekär Beschäftigen, über die Missachtung von Tarifen und Gewerkschaften, über die menschenverachtende Produktion von Billigwaren.

Schon klar, dass solche Gedanken nicht mehr die Menschen interessieren, die in den Spielecken und Fast-Food-Buden der Shopping Malls und im Internet aufwachsen. Womöglich habe ich selbst ein soziales Defizit, weil ich nicht mit Windows 10 groß geworden bin. Als Besitzer mehrerer Laptops, eines Tablets und eines Smartphones wundere ich mich allerdings nicht, wenn das „Digitalfasten“ voll im Trend ist und in den USA Menschen in „Digital Detox Camps“ von ihren Smartphones entgiftet werden.

Stuttgart jedoch, diese relativ kleine Großstadt mit ihren historischen Ecken, mit ihren liebenswerten dörflichen Zügen, hat alle Gründe, sich endlich für den realen Erhalt seiner noch vorhandenen Besonderheiten und eine lebenswerte Zukunft einzusetzen. Da ist auch mal das Hirn des Oberbürgermeisters gefordert. Als wortlosen Amtsverweser hat man ihn nicht gewählt.



BEITRÄGE schreiben im LESERSALON



FRIENDLY FIRE:

NACHDENKSEITEN

INDYMEDIA LINKS UNTEN

BLICK NACH RECHTS

INDYMEDIA

STÖRUNGSMELDER

FlUEGEL TV

RAILOMOTIVE

EDITION TIAMAT BERLIN

Bittermanns Fußball-Kolumne Blutgrätsche

VINCENT KLINK

KESSEL.TV

GLANZ & ELEND



 

Auswahl


Depeschen 2311 - 2318

Depeschen 2281 - 2310

Depeschen 2251 - 2280

Depeschen 2221 - 2250

Depeschen 2191 - 2220

Depeschen 2161 - 2190

Depeschen 2131 - 2160

Depeschen 2101 - 2130

Depeschen 2071 - 2100

Depeschen 2041 - 2070

Depeschen 2011 - 2040

Depeschen 1981 - 2010

Depeschen 1951 - 1980

Depeschen 1921 - 1950

Depeschen 1891 - 1920

Depeschen 1861 - 1890

Depeschen 1831 - 1860

Depeschen 1801 - 1830

Depeschen 1771 - 1800

Depeschen 1741 - 1770

Depeschen 1711 - 1740

Depeschen 1681 - 1710

Depeschen 1651 - 1680

Depeschen 1621 - 1650

Depeschen 1591 - 1620

Depeschen 1561 - 1590

Depeschen 1531 - 1560

Depeschen 1501 - 1530
01.10.2015

30.09.2015

28.09.2015
26.09.2015

24.09.2015

22.09.2015
21.09.2015

19.09.2015

17.09.2015
15.09.2015

12.09.2015

10.09.2015
08.09.2015

05.09.2015

03.09.2015
01.09.2015

31.08.2015

29.08.2015
27.08.2015

25.08.2015

24.08.2015
20.08.2015

18.08.2015

13.08.2015
11.08.2015

08.08.2015

07.08.2015
05.08.2015

03.08.2015

29.07.2015

Depeschen 1471 - 1500

Depeschen 1441 - 1470

Depeschen 1411 - 1440

Depeschen 1381 - 1410

Depeschen 1351 - 1380

Depeschen 1321 - 1350

Depeschen 1291 - 1320

Depeschen 1261 - 1290

Depeschen 1231 - 1260

Depeschen 1201 - 1230

Depeschen 1171 - 1200

Depeschen 1141 - 1170

Depeschen 1111 - 1140

Depeschen 1081 - 1110

Depeschen 1051 - 1080

Depeschen 1021 - 1050

Depeschen 991 - 1020

Depeschen 961 - 990

Depeschen 931 - 960

Depeschen 901 - 930

Depeschen 871 - 900

Depeschen 841 - 870

Depeschen 811 - 840

Depeschen 781 - 810

Depeschen 751 - 780

Depeschen 721 - 750

Depeschen 691 - 720

Depeschen 661 - 690

Depeschen 631 - 660

Depeschen 601 - 630

Depeschen 571 - 600

Depeschen 541 - 570

Depeschen 511 - 540

Depeschen 481 - 510

Depeschen 451 - 480

Depeschen 421 - 450

Depeschen 391 - 420

Depeschen 361 - 390

Depeschen 331 - 360

Depeschen 301 - 330

Depeschen 271 - 300

Depeschen 241 - 270

Depeschen 211 - 240

Depeschen 181 - 210

Depeschen 151 - 180

Depeschen 121 - 150

Depeschen 91 - 120

Depeschen 61 - 90

Depeschen 31 - 60

Depeschen 1 - 30




© 2007-2024 AD1 media ·