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Mittwoch, 11. März 2020, 2183. Depesche



 



Hört die Signale!

DIE MUSIK ZUM TAG



Dietrich Krauß, Autor der Satire-Show "Die Anstalt" im ZDF, der zusammen mit den Kabarettisten Max Uthoff und Claus von Wagner die Texte und Szenen der Sendung schreibt, war am vergangenen Samstag im Stadtarchiv wieder Bühnengast des Flaneursalons. Meine Lieder- und Geschichtenshow gastierte dort anlässlich der Fanprojekt-Ausstellung "Heimat Kickers. Die Blauen in bewegten Zeiten", und zur großen Freude des Publikums im ausverkauften Saal trug Dietrich u. a. diesen Text zum Thema vor:



RIEGEL-RUDI UND DER FUSSBALLFLUCH

Von Dietrich Krauß

Siebenmal sind die Teams von Kickers und VfB in den letzten fünf Jahren abgestiegen. Das hört sich nicht nach einer einfachen Pechsträhne an, das klingt allein wegen der magischen Zahl Sieben schon verdammt nach einem handfesten Fußballfluch. Womöglich gar nach einem von der Wucht der legendären Verwünschung Bela Guttmanns: Dem ungarischem Erfolgstrainer von Benfica Lissabon war nach dem zweiten Europa-pokal-Triumph 1962 eine Gehaltserhöhung verweigerte worden. Daraufhin hatte er prophezeit, dass sein zukünftiger Ex-Club 100 Jahre lang keinen europäischen Titel mehr holen würde - und bis heute recht behalten.

Gut, „keinen europäischen Titel MEHR“, das kann dem VfB schon mal nicht passieren, und auch längst entlassene Trainer werden hier fürstlich entlohnt. Also kein Guttmann-Fluch, aber warum straft der Fußballgott die Schwaben so anhaltend mit Tabellenkeller? Für welchen Sündenfall müssen die Schwaben so nachhaltig bezahlen - und was kann man dagegen tun?

Die Frage steht im Strafraum, und bei der Suche nach Antworten fällt der Blick natürlich zwangsläufig nach unten auf die unselige Grube am Bahnhof, in die seit zehn Jahren Geld und Vernunft verklappt werden. Womöglich hat den Stuttgarter Fußball kein Bann-, sondern ein Bahnfluch ereilt. Hatte man in Stuttgart tatsächlich geglaubt, mit diesem strohdummen Milliardenloch straflos gegen alle schwäbischen Tugenden verstoßen zu dürfen? Hatte man nicht das Schicksal förmlich herausgefordert, als man hernach noch kackdreist dem Hohepriester des Tiefbahnhofs, Wolfgang Dietrich, die Leitung des Vereins anvertraut hatte?

Unten liege die Zukunft predigte der Schönredner dieses Bahnsinns und machte sich prompt auch um die Tieferlegung des VfB verdient: Den Verein ereilte auf geradezu tragikomische Weise das Schicksal des Bahnprojekts. Geködert mit dem Versprechen auf das große Geld und eine glorreiche Zukunft, zieht es seitdem den Stuttgarter Fußball in die Tiefe. Immerhin ein Versprechen wurde eingelöst: Man ist von dort tatsächlich schneller in Ulm als früher. Der SSV ist vom VfB nur noch zwei Abstiege entfernt.

Zwar ist Dietrich hier wie dort längst vom Hof gejagt, doch der Abwärtssog ist immer noch übermächtig. Mit einem einfachen Präsidentenopfer, so scheint es, lässt sich der Fußballgott nicht besänftigen. Er verlangt ganz offenbar einen politischen Aufstand gegen den fortlaufenden Bahnsinn. Oben bleiben ist also erste Fußballpflicht.

Die Bahngrube ist aber nur ein augefälliges Menetekel des Stuttgarter Fußballelends. Vielleicht liegen die Ursachen noch tiefer bzw. höher. Auf den Stuttgarter Hanglagen, denn zwischen Degerlocher Höhen und dem Cannstatter Wasen liegen links und rechts des Kessels seit Jahrzehnten zwei berühmte Waldorfschulen: Uhlandshöhe und Kräherwald beanspruchen die ideologische Lufthoheit über den Kinderzimmern – sehr zum Nachteil von VfB, Kickers und Co. Denn große Teile der Stuttgarter Schülerschaft aus der Mittel und Halbhöhenschicht kommen dort ungeschützt in Kontakt mit der fußballfeindlichen Ideologie des Schulgründers Rudolf Steiner.

Riegel-Rudi errichtete hier vor hundert Jahren ein geistiges Abwehrbollwerk gegen den in seinen Augen unseligen materialistischen Fußballsport. Bis heute ist es an vielen Waldorfschulen verpönt bis verboten, gegen das Leder zu treten. Man pflegt den mentalen Catenaccio und verbaut so vielen Jugendlichen den Weg zur Fußballlaufbahn. Und zwar weltweit; denn längst ist Waldorf ein schwäbischer Exportschlager und in mehr Ländern zuhause, als der original „Riegel Rudi“ Gutendorf Fußballtrainer jemals war.

Warum aber flicken die Waldis dem Leder am Leder, was stört sie am Fußball? Sind es die rechten Winkel des Rasens? Oder dass das Runde ins Eckige muss? Nein, die Probleme sind viel grundlegender Natur. Und das heißt nichts Gutes für den Stuttgarter Fußball.

Angefangen hatte es mit einer Eisenbahnreise Steiners in Norwegen. Vom fahrenden Zug aus bemerkte der Vortragsreisende begeisterte Menschenmassen auf den Bahnsteigen. Allerdings jubelten sie nicht dem großen Propheten, sondern einer mitreisenden Fußballmannschaft zu. Das brachte Herr Steiner ins Grübeln, und wenn Riegel Rudi glaubt, einen Gedanken zu haben, wird’s gefährlich. Der selbsternannte Hellseher erblickte in Sport und Fußball fortan eine ernste Gefahr für den Fortschritt der Evolution. Ja sie haben richtig gehört. Dem Menschen werde auf dem Rasen das Geistige förmliche ausgetrieben. Der Fußball, so seine Jünger, „veraffe“ den Menschen.

Die anthroposophische Fachzeitschrift für gehobenen pädagogischen Unsinn namens „Erziehungskunst“ erklärt uns Fußballschimpansen 2014, was der Gaga-Guru damit sagen wollte: Der aufrechte Gang habe dem Menschen Denken und Sprechen ermöglicht, der Fußball aber ziehe den Körper wieder nach unten . „Denn bei erfolgreichen Spielern sitzt der Körperschwerpunkt tief und der Wille muss im Fußgelenk ja in den Fußspitzen sitzen, was aber vor der Pubertät normalerweise nicht der Fall ist.“ Der Wille sitzt also bei Waldorfschülern ab der Pubertät in der Fußspitze, nur bei ordinären Staatsschülern ist er in dieser Zeit überwiegend im Hodensack beheimatet.

Irritierend auch die Erkenntnis, dass der Wille zum Schuss mit der Pike als fußballerisches Erfolgsgeheimnis angesehen wird und nicht etwa als Ausdruck kompletten Unvermögens: „Das Kicken, Schießen oder Köpfen ist in frühem Alter abträglich für das Finden eines gesunden Verhältnisses von Körper und Seele. Vermieden werden sollte in jedem Fall die Haltung, die die mechanischen Tippkickfiguren so deutlich vormachen: Man hält sie an der Brust, drückt auf den Kopf, und schon schnellt der Fuß zum Kicken des Balls.“ Ich weiß nicht, wie oft der anthroposophische Evolutionsexperte schon einmal ein leibhaftiges Fußballspiel gesehen hat. Eher selten werden dabei Schüsse per Kopfdruck ausgelöst, aber vielleicht können Waldorfschüler tatsächlich nur auf diese Weise ihr Bein bewegen. Dem Spielfluss ist das nicht zuträglich. Doch die Anthroposo-phen haben ganz andere Sorgen. Sie haben Angst, dass uns auf dem Rasen das Hirn entgleitet. Mühsam habe sich der Mensch, von Atlantis kommend, emporgearbeitet, mit dem aufrechten Gang Denken und Sprechen gelernt, und nun drohen Sport und Fußball diese ganze schöne Entwicklung zunichte zu machen. „Die Hände werden zur völligen Untätigkeit verdammt Der Fuß wird wieder zum geschickten, universell einsetzbaren Gliedmaß eben wie der Kopf wird der mit teilweise ungeheurem Können in das Spiel einbezogen .“

Ja, denkt der Laie, das ist doch wunderbar, oder ? Spoiler, nein. Für Waldis es ist eine Katastrophe: Der Mensch regrediert zum Erdentier. „Der Kopf erhält damit einen Bewe-gungsimpuls, der dem des Säugetieres entspricht und beim Menschen gerade zurückgebildet worden ist. Insofern wird durch den Fußball die in der Evolution gewonnene funktionelle Trennung wieder aufgehoben, eine rückwärtsgerichtete Entwicklung induziert – also das Gegenteil von dem, was in der Waldorfpädagogik methodisch angestrebt wird.“

Und ja, hat Steiner da nicht recht? Werden wir nicht bei jedem Interview nach dem Spiel in den Katakomben Zeuge davon, dass die Menschheit nach 90 Minuten Kicken wieder einen großen Schritt nach hinten gemacht hat? Schnurstracks regressiv Richtung Nean-dertal? Ist das nicht endlich eine schlüssige Erklärung für Podolski-Zitate wie „Wir müssen jetzt die Köpfe hochkremplen und die Ärmel auch“.

Wenn aber Fußball Balla-Balla macht, wie kann man der Evolution proaktiv auf die Sprünge helfen? Schwaben-Schwurbler Steiner weiß die Antwort: Man muss nur den geistlosen Bewegungen des Fußballsports andere geistvolle Bewegungen entgegensetzen. Eurythmische Bewegungen, die die Schwingungen des Ätherleibes zum Ausdruck bringen - und nicht wie der Fußball, den physischen Leib wegziehen vom Ätherleib. Deshalb protestieren immer wieder Spieler trotz offenkundigen Foulspiels beim Schiri: „Ich hab ihn doch gar nicht am Ätherleib gezupft, nur am Trikot festgehalten.“

Eurythmie. Der ulkige Namenstanz ist also explizit als esoterisches Hopsen gegen den Fußball konzipiert. Er machte sich gar Hoffnungen, dass der Siegeszug der Eurythmie eines Tages den Fußball verdrängen werde. Und während das Kicken an vielen Schulen geächtet bleibt, ist die Eso-Gymnastik Pflichtfach für alle. Kein Waldorfschüler darf sich diesem okkulten Ringelrein entziehen. Alle müssen in wallenden Gewändern und Schläppchen ihren Ätherleib hinterhertanzen . Nur starke Charaktere überstehen das ohne psychische Schäden, aber für den Fußballsport sind viele ein für allemal verdorben. Stuttgart hat hier also ein handfestes und hausgemachtes Nachwuchsproblem.

Wo könnte der VfB, wo könnten die Kickers stehen ohne die Eurythmie. Erstaunlich genug, dass sich trotz dieser fußballfeindlichen Lehre in Stuttgart überhaupt eine Fußballkultur entwickeln konnte. Doch wer weiß, wie lange noch, denn die Grünen-Waldorffreunde schicken tatsächlich eine studierte Eurythmielehrerin als Spitzenkandidatin in den Wahlkampf um das Stuttgarter Oberbürgermeisteramt. Nicht auszudenken, was passiert, wenn anthroposophische Fußballfeinde die Macht im Rathaus ergreifen. Womöglich werden dann alle dem Fußball abschwören, und Stuttgart begibt sich, angeleitet von der Waldorfpädagogik, auf die evolutionäre Überholspur – ein klares Ziel vor Augen. Denn liebe Fußballaffen, Brustring Paviane und Orang Utans Ultras aufgepasst: Mit Hilfe der Eurythmie haben sie die einmalige Chance, zum anthroposophischen Übermenschen heranzureifen und endlich die niedere Welt des Geschlechtverkehrs hinter sich zu lassen. Hand ans Gemächt, jetzt wird’s gefährlich. Rudi Steiner: „Alle niederen Organe, die sexuellen Organe, werden in Zukunft nach und nach abfallen. Herz und Kehlkopf dagegen sind Organe, die erst in der Zukunft ihre Vollendung haben werden, In der Zukunft wird der Kehlkopf nicht nur die Worte hervorbringen, sondern er wird einstmals das Zeugungsorgan sein, das dem Menschen ähnliche Wesen hervorbringen wird. (...) der Kehlkopf wird zum keuschen, reinen Kelche, der vom Geiste befruchtet wird, der der heiligen Liebeslanze entgegengehalten wird.“

In der anthroposophischen Zukunft können wir die Kinder einfach husten. Nicht nur das Kopfballspiel wirkt sich nachteilig aus auf das Denkvermögen. Auch von Steiner bekommt man offensichtlich eine weiche Birne. Statt mühsamer Sexsuche blüht uns die einfache Kehlkopfgeburt in einer geschlechtslosen Welt. Viele mögen nun denken, kann man beim Fußball schneller haben. Wie oft dachte man schon nach einem Schuss in die Mauer, das war es jetzt mit der Fortpflanzung, während sich dem Kehlkopf ein großer Schrei entband. Mama ...!

Vielleicht sagen sie aber auch, ja dieser langfristige Weg in die Unfruchtbarkeit, das ist mein Ding. Penis und Vulva haben mich noch nie interessiert, ficken will ich nicht, kicken kann ich auch nicht, ich möchte helfen, nachfolgenden Generationen eine Kehlkopf-Geburt zu ermöglichen. Was wird dann aus dem VfB? Der hat sich mit seinem Namen für alle Entwicklungen offengehalten. Vielleicht wird ja ein Gymnastikclub aus dem Verein für Bewegungsspiele. Wenn Ihnen aber ein Verein für Ballspiele lieber ist, verehrtes Publikum, dann wissen Sie, was Sie zu tun haben bei der nächsten Wahl.



 

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