Bauers Depeschen


Sonntag, 08. März 2020, 2182. Depesche



Hört die Signale!

DIE MUSIK ZUM TAG



Den folgenden Text habe ich für unsere Flaneursalon-Show am vergangenen Samstag im Stuttgarter Stadtarchiv gemacht:



GUTEN ABEND im Stuttgarter Stadtarchiv,

verehrte Sportskamerrradinnen und Sportskamerrraden, ich begrüße Sie heute in diesem Horrrt der Heimat, im Bauch des Weltfußballs. Okay, wechseln wir lieber den Ton ...

Liebe Gäste, ich danken Ihnen, dass Sie da sind, in diesem schönen Backsteingebäude, früher war das übrigens mal ein Kolonialwarenhaus voller deutsch-imperialistischer Beuteware. --- Heute Abend sitzen wir im Stadtarchiv, also mitten im Gedächtnis der Stadt. Und dazu kann ich nur sagen: In einer Institution, die man das Gedächtnis der Stadt nennt, darf man mit Fug und Recht auch ein Gehirn vermuten. Dies ist eine Eigenschaft, die nicht alle Räume im Stuttgarter Rathaus auszeichnet. Und das ist doch einen Applaus wert für unsere Gastgeber.

Der Flaneursalon liefert heute die Begleitmusik zur aktuellen Stadtarchiv-Ausstellung „Heimat Kickers – die Blauen in bewegten Zeiten“. Ich selber, ein schwäbisches Zufallsgewächs, habe kein so gutes Verhältnis zu dem Begriff Heimat. Ich zitiere hier mal Sätze aus der Politik: „Wir lieben dieses Land! Es ist unsere Heimat. Für diese Heimat werden wir kämpfen.“ Dieser Schlachtruf stammt nicht von Goebbels, auch nicht von Gauland oder Florian Silbereisen, sondern von Katrin Göring-Eckardt, der Grünen-Fraktionschefin.

Tatsächlich wird schon lange an verschiedensten Fronten um den Begriff Heimat gekämpft. Die völkischen Nationalisten und Nazis haben ihn für sich vereinnahmt, ihre Gegner allerdings wollen ihn den Rechten nicht überlassen. Schon Tucholsky hat sich dagegen gewehrt, später auch Ernst Bloch – in meinen Augen ist dieser Kampf verloren.

Und bei diesem Stichwort bin ich bei unserem auf dem Feld des Verlierens überragendem Klub, den Stuttgarter Kickers, meinem Heimatverein. Lange hieß die Parole der Blauen: Lieber gehen wir über den Jordan als über den Neckar. Deshalb: Willkommen in Cannstatt, das die Nazis 1933 in Bad Cannstatt umgetauft haben.

Ende der siebziger Jahre, als ich bis dahin nur den Provinzclub VfB gesehen hatte, haben mich Freunde auf die Waldau verschleppt. Hinauf zu den Hügeln zu den ruhmreichen Blauen. Ich kam damals vom Dorf, stand dann in Degerloch schon wieder mitten im Wald – und blieb dort einfach die nächsten 40 Jahre stehen, auch geistig. Es ist, als würde ich dort bis heute auf einen Bus warten, der niemals kommt - und wenn, dann hält er auf der falschen Seite.

Übrigens: Die aktuell fünfte Liga stört mich nicht im Geringsten im allgemeinen Klassenkampf: Schließlich bin ich ja selber in den unteren Ligen zu Hause. Sonst wären wir heute nicht im Stadtarchiv, sondern in der Schleyerhalle – wo man aber auch nicht sein möchte, wenn man als Namensgeber dieses Mehrzweckschuppens einen Hauptsturmführer der SS vor Augen hat.

Dem Flaneursalon ist es eine Ehre, heute eine großartige Arbeit des Kickers-Fanprojekts begleiten zu dürfen. Wer wie diese Frauen und Männer die Geschichte aufarbeitet, leistet auch einen wichtigen Beitrag für unsere Gegenwart. Gerade heute, da Nationalisten und Nazis unsere Kultur und damit die Lebensart der liberalen Gesellschaften angreifen. Wir erfahren in dieser Dokumentation, wie Rassismus, Antisemitismus und die faschistische Ideologie das Leben in der eigenen Umgebung zerstören. Wir erfahren, wie schnell sich der Verein den Nazis anschloss, wie widerlich jüdische Mitglieder und Sportler der Kickers in den eigenen Reihen behandelt wurden.

Ernsthafte Beschäftigung mit der Vergangenheit erinnert immer auch an das auch das Hier und Jetzt. Erst im vergangenen Jahr musste der Vorsitzende des Kickers-Fördervereins zurücktreten, als via Facebook öffentlich wurde, dass er Texte mit übler rassistischer, völkischer Gesinnung verbreitet hatte. Er verwendete Nazi-Vokabular wie „der große Austausch“. Bei diesem Fall erlebten wir einen typischen Akt gefährlicher Verharmlosung: Die Verantwortliche der Kickers nahmen ihren rechtsextremen Funktionär, Steffen Ernle, mit dem Argument in Schutz, als AfD-Mitglied gehöre er zu einer demokratisch gewählten Partei. Da fehlte jegliches Bewusstsein dafür, dass in einer Demokratie auch die Feinde der Demokratie gewählt werden können.

Wir sind jetzt mitten im breiten historischen Spektrum des Fußballs. Natürlich erzählen wir uns bis heute auch das Kickers-Kapitel vom Hundert-Tore-Sturm der Saison 1947/48 mit Edmund Conen, Helmut Jahn, Albert Sing, Reinhard Schaletzki. Oder die Geschichte vom Kaufmann Peter Maier, in der Stadt bekannt als der Käs-Maier: Er schonte bei Kickersspielen seine Hinterbacken auf einem extra für ihn gefertigten blauen Polster mit seinen Initialen in Schmuckschrift. So verwöhnt saß er auf der alten Sitztribüne, die 1913 der Kronprinz von Württemberg als Nachbau der Tribüne von Arsenal London im Maßstab 1:3 eingeweiht hatte. Ja, die Kickers. Der blaue Adel.

Und bis in die achtziger Jahre hinein stand ein Altstadt-Musikant namens Kotlett hintrm Tor und biss regelmäßig hoch erregt in den Maschendraht.

Wir wissen auch, dass in den zwanziger Jahren eine junge Frau namens Gerta Poho-rylle mit ihrem Freund Pieter Bote regelmäßig die Spiele der Kickers besuchte. Jene junge Gerta, die 1910 in Stuttgart geboren wurde, als Neunzehnjährige mit ihrer jüdischen Familie nach Leipzig umzog und vor den Nazis nach Paris flüchten musste. Wenig später wurde sie als Fotografin unter dem Namen Gerda Taro mit ihrem Partner Frank Capa im Spanischen Bürgerkrieg weltberühmt. Mit 26 Jahren fiel sie während eines Luftangriffs von Hitlers Legion Condor. Ihre Geschichte der Widerstands hat man wie so vieles in Stuttgart lange vergessen und verschwiegen. Heute liest man auf einer der Gedenktafeln am Stuttgarter Gerda-Taro-Platz an der Hohenheimer Straße die Überschrift: „Die zwanziger Jahre: Jazz, Kino und die Kickers“.

Auch solche Dinge erzählt uns der Fußball, wenn wir uns nicht damit begnügen, welche Pfeife den letzten Elfer verschossen hat. Andrerseits war ich dabei, als wir 1987 im Berliner Olympiastadion das DFB-Pokalfinale gegen den HSV ungerecht mit 1:3 verloren und in allen Berliner Straßenbahnen als die wahren Helden gefeiert wurden. Am Abend darauf kehrte ich in zur Trostrunde in den Brunnenwirt in der Stuttgarter Altstadt ein und setzte mich zu Jürgen, dem bis heute legendären Imbiss- Chef des Brunnenwirts. Im allgemeinen Trubel fiel mir erst nach einer Weile auf, dass sein Handgelenk geschwollen war, eine Blase so groß wie ein Fußball. Würstles-Jürgen, wie man ihn nannte, ließ keinerlei Schmerz erkennen, er trank fröhlich seinen Wodka. Als ich ihn schließlich nach langen medizinischen Verhandlungen mit dem Taxi ins Katharinenhospital gebracht hatte, stellte sich heraus, dass sein Gelenk gebrochen war.

In der 15. Minute des Finales hatte Dirk Kurtenbach das 1:0 für die Blauen geschossen – und vor Freude schlug Jürgen mit seiner tödlichen Faust gegen einen Holzbalken der Kneipe. Was schon ist ein gebrochener Knochen gegen ein Tor der Kickers.

An dieser Stelle könnten wir jetzt hier die Kickers-Hymne anstimmen, komponiert hat sie der großartige Jazzmusiker Erwin Lehn, getextet wurde sie von dem in Stuttgart geborenen Schauspieler und Entertainer Blacky Fuchsberger.

Meine Lieblingszeilen aus diesem Song sind ein Zeugnis einzigartiger lyrischer Kunst, und so singe ich: „Wenn die Kickers auf dem Rasen / Hier daheim und anderswo, / Wie ein Mann zum Angriff blasen, / Dann ihr Leute klingt das so: / Heja, heja Kickers vor, Heja Kickers noch ein Tor …“

Dank dieser Strophe, meine Damen und Herren, dürfte für alle Zeiten geklärt sein, wo unsere Heimat wirklich ist: nämlich hier, daheim und ANDERSWO. Vielen Dank.

 





 

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