Bauers Depeschen


Freitag, 27. Dezember 2019, 2163. Depesche



 



VORVERKAUF FLANEURSALON

Für den Flaneursalon am Samstag, 7. März, im Stuttgarter Stadtarchiv läuft bereits der Vorverkauf. Die Lieder- und Geschichtenshow mit Gypsy Music vom Trio Gadjo, mit der Sängerin Eva Leticia Padilla, mit "Anstalt"-Autor Dietrich Krauß und Ballpoet Bernd Sautter. Hier der Link: KARTEN FLANEURSALON



LINKE ERZÄHLUNG IM WELTHAUS

UND IN DER MANUFAKTUR

Die Münchner Autorin und Journalistin JULIA FRITZSCHE, geboren 1983, hat in der Edition Nautilus ein Buch "Für eine neue linke Erzählung“ veröffentlicht: „Tiefrot und radikal bunt“. Mit Reportagen und Geschichten über fortschrittliche Aktionen und bereits bestehende praktische und theoretische Entwürfe zu Themen wie Ökologie, Arbeitswelt, Feminismus, Migrationspolitik führt sie Ideen zusammen. Für ihre sehr lebendigen Texte war sie an den Brennpunkten. Am Donnerstag, 16. Januar, liest sie – in einer von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Verdi unterstützten Veranstaltung – im Stuttgarter Welthaus am Charlottenplatz aus ihrem Buch. Dietrich Krauß, Autor der Satireshow „Die Anstalt“, moderiert. Beginn 19 Uhr. EINTRITT FREI. Am Tag zuvor (Mi, 15. 1.) liest Julia Fritzsche in der Schorndorfer Manufaktur - dort moderiert unsereiner; wie das Leben so spielt beim gemeinsamen Wurschteln.



WEITERE TERMINE:

FREITAG, 10. JANUAR: Die Poetin/Liedermacherin/Kabarettistin Uta Köbernick gastiert in der Rosenau. 20 Uhr.

SAMSTAG, 11. JANUAR: Um 18 Uhr liest die Kulturwissenschaftlerin Karoline Walter im Württembergischen Kunstverein am Schlossplatz aus ihrem Buch "Guten Abend, gute Nacht". Thema: Wie der Schlaf instrumentalisiert wird - siehe Kolumne "Erwachet" vom 26. 10. 2019 (auf dieser Seite im Archiv).

Am selben Tag ist der Berliner Kabarettist ARNULF RATING im Stuttgarter Renitenztheater. Beginn 20 Ihr.



Hört die Signale!

DIE MUSIK ZUM TAG



Aus den Beständen

IRGENDWO

Als ich kurz vor Weihnachten meinen Sonntagslauf durch den Dachswald am oberen Ende der Hasenbergsteige beendet hatte, hörte ich ein lautes Stöhnen, konnte aber zunächst nicht sehen, woher es kam. Dann entdeckte ich einen Jungen, einen Schwarzen, vielleicht 16 Jahre als. Bekleidet mit einer Camouflagejacke, machte er auf der Erde Liegestütze. Mit üblicher Altersneugier ging ich zu ihm und sagte: „Für welche Weltmeisterschaft trainierst du?“ Er lachte und sagte: „Mann, Ich trainiere für das Leben – das ist die größte Welt­meisterschaft.“ „Mann“, sagte ich, „diesen Satz werde ich mir merken.“

Das Leben, für das dieser Junge trainiert, ist eine merkwürdige Angelegenheit. Noch am selben Tag fiel mir in der U-Bahn ein „Brot für die Welt“-Plakat auf: „Manche lassen ihr ganzes Leben zurück. Um es zu behalten.“ Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Satz aus einer Werbeagentur wahr ist. Wer weiß schon, ob jemand sein Leben zurücklassen kann, wenn er aufbricht, um irgendwo anders zu überleben. In dem Film „Crazy Heart“ spielt Jeff Bridges einen heruntegekommenen Countrysänger, der die Fünfzig überschritten und seine guten Zeiten hinter sich hat. Bei einem seiner besseren Auftritte sagt er zum Publikum: „Es ist schön, bei euch zu sein. In meinem Alter ist es gut, noch irgendwo zu sein.“

Das Irgendwo-Sein ist typisch für Countrysongs, die von gescheiterter Liebe, verpfuschtem Leben und ewigem Herumziehen handeln. Diese Lieder sind zuweilen humorvoll und selbstironisch, oft aber zutiefst romantisch, was keineswegs Kitsch bedeuten muss.

Ein Weltreisender war der 1836 in Kirchheim unter Teck geborene Ingenieur und Schriftsteller Max Eyth. Er studierte in Stuttgart und sammelte erste Berufserfahrung in der einst weltberühmten Maschinenfabrik Gotthilf Kuhn im heutigen Stadtteil Berg. In einer Geschichte über eine Eisenbahnfahrt mit dem Titel „Durch Amerika“ sagt er uns etwas über sein Verhältnis zur Romantik: „Man saust und jagt, aber man saust und jagt nicht aneinander vorbei und auseinander wie auf den kleinen Strecken in der Heimat. Man ist tagelang beisammen, man isst, trinkt und hungert vereint, man geht zu Bett und steht auf, erzählt sich Lebensschicksale und Rauchzimmergeschichten, kurz, es wäre wieder etwas von der alten Postkutschenromantik gerettet, wenn das Klima der Romantik nicht so gar zuwider wäre.“

Undenkbar, dass ein dem Fortschritt verpflichteter Ingenieur wie Max Eyth nostalgisch rückwärts schaut; niemals könnte es ihm genügen, „irgendwo“ zu sein. Irgendwo wäre nirgendwo.

Der eingangs erwähnte Satz des Jungen vom Dachswald hat mich verblüfft, weil der Junge spontan das Leben als „Weltmeisterschaft“ bezeichnete – als würde er weit über die Baumwipfel vor der eigenen Nase hinausschauen und das Leben als durch und durch internationale Angelegenheit mit reichlich Anstrengungen begreifen.

Der Blick auf die Welt, das lehren uns zurzeit Realität und Internet, wird immer enger: Unzählige Kommentarfelder auf Facebook und anderen unsozialen Netzen sind geprägt von Scheuklappen, die Hass gegen alles produzieren, was sie nicht selber sind. Differenzierungen, Abwägungen, halbwegs vernünftige Überlegungen gehen unter oder werden von Hetze verdrängt. Meine Sicht der Dinge mag bereits wie eine Plattitüde klingen – und ist womöglich nicht viel wert, weil mir zurzeit nichts Gescheites einfällt, was gegen den Hass getan werden kann. Obwohl klar ist, dass etwas getan werden muss, weil es sonst schon bald nicht mal mehr gut ist, wenigstens noch irgendwo zu sein.

Immer öfter frage ich mich: Wo sind wir eigentlich? Das ist keine Floskel, sondern Ausdruck der Orientierungslosigkeit. Meine Ratlosigkeit geht so weit, dass ich nicht mal mehr weiß, wo man Verbündete finden kann – gegen den Hass auf Ausländer und deren Freunde, gegen den Wahnsinn des Sündenbock-Denkens und gegen die Zerstörung des auch nur ansatzweise aufgeklärten Denkens durch den Dreck des Internets und anderer Medien.

Auch die Realität wird immer verrückter: Ein Araber in meinem Viertel erzählt mir, dass die Ehefrau eines mit ihm befreundeten Landsmanns AfD gewählt hat, weil sie Ausländer hasst. Ihren Mann verschont sie freundlicherweise: Dank seiner Ehe besitzt er einen deutschen Pass.

Es ist jetzt Weihnachten, und eine Portion Gejammer ändert so wenig wie ein „Klima der Romantik“, das dem Dampfmaschinen-Mann Max Eyht „so gar zuwider“ ist. In dem Buch mit Max Eyths Text und anderen Eisenbahngeschichten – es heißt „Mit des Blitzes Schnelle“ (S. Fischer Verlag) – findet sich auch ein kurzes Prosastück des 1878 geborenen Schriftstellers Robert Walser; 1895/96 wohnte er bei seinem Bruder, dem Maler Karl Walser, in der Stuttgarter Gerberstraße. In seinem Text „Der Bahnhof“ geht es um „die Halle, die ein Raum ist, der das Maschinenzeitalter veranschaulicht und etwas Internationales verkörpert. Beinahe romantisch mutet der Gedanke an, dass durch alle Länder während der sonnigen Tageszeit oder in den Nächten rastlos Züge hin- und herfahren. Welch ein weitverzweigtes Bildungs- und Zivilisationsnetz wird hierzu vorausgesetzt. Man kann Einrichtungen, die man geschaffen hat, Institutionen, die ins Leben gerufen wurden, nicht abschütteln. Was ich leiste, zustande bringe, verpflichtet mich.“

Daran könnte man jetzt denken, auf dem Weg zum Zug: an Max Eyths Eisenbahnwaggon, in dem man vereint ist mit Fremden, und an Robert Walsers Verpflichtung gegenüber dem Zivilisationsnetz und einer Bahnhofshalle, die etwas Internationales verkörpert.

Am ersten Weihnachtsfeiertag 1956 erlitt Robert Walser einen Herzinfarkt. Man fand den Spaziergänger tot im Schnee.

 

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