Bauers DepeschenSonntag, 02. Februar 2020, 2174. DepescheAMTLICHE BEKANNTMACHUNGEN DER FLANEURSALON ist am Samstag, 7. März, im Stuttgarter Stadtarchiv in Cannstatt (19.30 Uhr). Bereits zum dritten Mal sind wir dort auf Einladung, um eine Ausstellung mit der Lieder- und Geschichtenshow zu begleiten. Vom 18. Februar an zeigt das Stadtarchiv, in einem schönen Backsteinbau untergebracht, die Schau "Heimat Kickers - Die Blauen in bewegten Zeiten". Unter der Mitwirkung des Kickers-Fan-Projekts haben Fußball liebende Menschen verschiedener Generationen die Geschichte der Stuttgarter Kickers von 1899 bis 1949 aufgearbeitet, darunter auch die Zeit des Nazi-Terrors und den unmenschlichen Umgang des Vereins mit seinen jüdischen Mitgliedern. - Natürlich wird der Flaneursalon kein Themenabend, sondern wie immer eine kontrastreiche Show mit unterschiedlichen Gästen. "Anstalt"-Autor Dietrich Krauß ist wieder live dabei, erstmals auch der Autor Bernd Sautter, der als Fußballkenner auch in den unteren Ligen zu Hause ist. Dazu kommen starke Sängerinnen und Musiker: die Eva Leticia Padilla Band und das Trio Gadjo mit der Sängerin Katalin Horvath, dem Gitarristen Frank Wekenmann und dem Teufelsgeiger Stefan Mare vom Staatsorchester. Hier der Link zum Vorverkauf: KARTEN FLANEURSALON 500. MONTAGSDEMO GEGEN STUTTGART 21 An diesem Montag,3. Februar, steigt am zerstörten Hauptbahnhof die sage und schreibe 500. Montagsdemo gegen Stuttgart 21. Es sprechen die bekannten Verkehrswissenschaftlern Heiner Monheim und Hermann Knoflacher. Als dritter Redner ist unsereiner im Aufgebot, die Moderation übernimmt Sabine Leidig, und die Musik steuert die erstklassige Band Lenkungskreis Jazz bei. Als Spezialgast, ich darf's verraten, kommt der Dichter Timo Brunke. Beginn 18 Uhr. Hört die Signale! DIE MUSIK ZUM TAG Eine Text aus meinen Beständen: NACHBARN Schuld hat allein meine Gewohnheit, einen Hut zu tragen, dass ich im Sommer 2016 die Existenz des Nachbarn an sich entdeckte. Ich meine nicht einen bestimmten guten, bösen oder schleimigen Nachbarn. Es geht um seinen Mythos. Als das deutsche Team am 16. Juni 2016 bei der Fußball-EM gegen Polen freundschaftlich 0:0 spielte, erinnerte das Datum fast auf den Tag genau an ein historisches Ereignis: Am 17. Juni 1991 unterschrieben Kanzler Kohl und Premier Bielecki den deutsch-polnischen Vertrag über gute nachbarschaftliche Beziehungen. Ein offizieller Akt der Aussöhnung, 52 Jahre nach dem Überfall von Hitlers Wehrmacht auf Polen. Als ich darüber nachdachte, hatte ich von Polen nicht mehr gesehen, als auf einem Spaziergang über die Stadtbrücke von Frankfurt an der Oder in die polnische Nachbarstadt Slubice möglich war. Ein Jahr später besuchte ich Danzig, Krakau und Auschwitz. Ich bin übrigens keiner, der unterwegs ist, um bestimmte Themen zu suchen. Wer irgendwo halbwegs wach herumgeht, findet immer was. Eines Samstagmorgens gehe ich in meiner Nachbarschaft am Hölderlinplatz zur Filiale der BW-Bank. Auf einem Wandvorsprung neben dem Bankautomaten sitzt eine ältere Frau, sie zittert am ganzen Körper. Ich frage, ob ich einen Arzt rufen soll. Nein. Sie bittet mich, ihr Geld aus dem Automaten zu ziehen. Versehentlich reicht sie mir eine falsche Plastikkarte. Als wir die richtige gefunden haben, weiß die arme Frau ihre Geheimnummer nicht. Normalerweise erledige Geldsachen ihr Mann, sagt sie, aber ihr Mann sei im Krankenhaus. Ich frage sie, ob ich ihr etwas Geld borgen soll. Ja, sagt sie, das wäre gut. Ich kenne die Frau nicht, frage zum Abschied nicht nach ihrem Namen. Sie sagt, sie habe mich schon öfter in unserer Straße gesehen und wisse, wo ich wohne. Alles klar. Ich gebe ihr 100 Euro. Zwei Tage später erhalte ich eine SMS von meiner Wohnungsnachbarin: Frau X aus unserer Straße habe einen Umschlag abgegeben. Der sei vermutlich für mich. Die Dame habe meinen Namen nicht gewusst. Sie habe gesagt, der Umschlag sei „für den Schauspieler mit dem Hut“. An diesem Tag habe ich mir geschworen, nie mehr ohne Hut aus dem Haus zu gehen. Schon weil endlich mal meine Schauspielkunst gewürdigt wurde. Der Regisseur Sergio Leone hat einmal gesagt, Clint Eastwood beherrsche zwei Gesichtsausdrücke: einen mit und einen ohne Hut. Getoppt werden kann dies nur von einem wie mir: Es gelingt mir so gut wie immer, mit und ohne Hut gleich bescheuert aus der Wäsche zu schauen. Die Begegnung mit der Frau in der Bank beschäftigt mich bis heute, da ich in schon in ein anderen Gegend wohne: Ich weiß immer noch fast nichts von meinen Nachbarn – sieht man davon ab, dass in unserer Gegend 40 Prozent die Grünen wählen. Der Nachbar an sich hat keinen besonders guten Ruf. Das liegt ausschließlich am Nachbarn, nicht an mir. Nachbarn sind immer die anderen. In Deutschland werden jährlich 80 000 Streitigkeiten zwischen Nachbarn aktenkundig, die Hälfte davon landet vor Gericht. Nicht alle dieser Konflikte enden so konsequent wie in einem Song der Rockband Donots: „Ich töte meinen Nachbarn und verprügle seine Leiche.“ Womöglich herrschen in Nischen unserer von Egoismus und Neid geprägten Gesellschaft sogar bis heute Reste demokratischer Solidarität – wie in dem schönen Lied „Der Mond ist aufgegangen“ nach einem Gedicht von Matthias Claudius: „Kalt ist der Abendhauch. / Verschon uns, Gott, mit Strafen / Und lass uns ruhig schlafen / Und unsern kranken Nachbarn auch.“ Um die Kleinbürgerkriege besser führen zu können, gibt es in unseren Paragrafenwäldern ein sogenanntes Nachbarrecht, und es war selbstredend die Häuslebauer-Hochburg Baden-Württemberg, die als erstes Bundesland 1959 ein Nachbarrechtsgesetz erließ. Darin sind beispielsweise die Höhe einer Gartenhecke und das „Hammerschlags- und Leiterrecht“ verankert – Paragrafen, dass es einem den Hut lupft. Reichlich Schlagzeilen machte der Nachbar, als ein AfD-Führer mit Hundekrawatte namens Gauland sagte, die Menschen hierzulande wollten einen schwarzen Fußballnationalspieler wie Boateng nicht als Nachbarn. Prompt konterten Schnelldenker wie der Grünen-Politiker Özdemir mit dem dummen Spruch: „Lieber Boateng als Nachbar als Gauland“. Diese Formulierung bedeutet nichts anderes als: Boateng ist nicht ganz so schlimm wie Gauland – also das kleinere Übel, wie heute die Grünen. Letztens war ich in Berlin und besuchte eine Dauerausstellung im Schöneberger Rathaus mit dem Titel „Wir waren Nachbarn – 152 Biografien jüdischer Zeitzeugen“. Ich dachte an das Stuttgarter Hotel Silber. Eher zufällig begegnete ich der Politologin und Ausstellungsbetreuerin Silke Struck. Sie berichtete, wie junge Leute die Brutalität des Nazi-Terrors erst nachvollziehen können, wenn ihnen Dokumente erzählen, wie die Nazis die Menschen in der unmittelbaren Nachbarschaft aus dem Leben gerissen und in die Vernichtungslager transportiert haben. Die Auseinandersetzung mit dieser deutschen Geschichte geht in der Schöneberger Rathaus-Nachbarschaft in den Straßen weiter; man kommt an Tafeln vorbei wie dieser: „Berufsverbote für jüdische Schauspielerinnen und Schauspieler. – 5. 3. 1934“. In Schöneberg lebten einst jüdische Berühmtheiten wie Albert Einstein, Kurt Tucholsky, Nelly Sachs, Walter Benjamin, Mitglieder der Comedian Harmonists. Der freiheitliche nachbarschaftliche Geist hat wohl dazu geführt, dass der Stadtteil auch heute ein Zentrum der Schwulenbewegung ist. Viele Touristen kommen auch nach Schöneberg, um sich in der Hauptstraße umzusehen, wo in den siebziger Jahren David Bowie im Haus Nummer 155 wohnte. Als Bowie, der in seinem Leben als Kunstfigur sehr elegante Hüte trug, wieder weg war aus Berlin, nannte man die Nachbarschaft auch schon bei uns Community. Und auch Hood. Es begann die Sponti-Ära, und dieser Zeit verdanken wir das bis heute hoffnungsvollste Versprechen auf eine bessere Welt: „Anarchie ist machbar, Herr Nachbar!“ Falls ich den Kerl mal zu sehen bekomme, ziehe ich meinen Hut. |
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