Bauers Depeschen


Donnerstag, 19. April 2018, 1933. Depesche



 



Es gibt noch KARTEN für den FLANEURSALON an diesem Donnerstag im Stuttgarter Stadtarchiv in Cannstatt an der Abendkasse. Beginn 19.30 Uhr.



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Die aktuelle StN-Kolumne:

STUKKERT AM NECKARSTROME

ALLES war im Fluss, ich musste hinaus. Der erste schöne Sommertag des Jahres mitten im April bereitete mir ein so schlechtes Gewissen, dass ich am Abend in lächerlichen Turnschuhen zur U-Bahn-Haltestelle stiefelte. Wenn ich zum Fluss aufbreche, lasse ich die Stiefel im Stall. Mit hohen Absätzen und Schäften lässt es sich bei Bedarf nicht so flott schwimmen im Neckar.

Über den Wilhelmsplatz Richtung Rotebühlplatz, vor dem ausgetrockneten Brunnen lege ich eine Gedenkminute ein. Der Sigmundbrunnen, benannt nach einer ehemaligen Metzgerei in der Hauptstätter Straße 29, wo er bis 1968 gestanden hat. Seit 50 Jahren dekoriert er den tristen Wilhelmsplatz. Noch ist nicht überall Fließendwassersaison, der Brunnen wirkt deshalb trist und gehaltlos wie ein paar Meter weiter die Landeszentrale der SPD.

Mit der Linie 14, einer unserer schönsten Straßenbahnstrecken, nach Cannstatt. Ausstieg an der Haltestelle vor dem Alten Hasen. Ich erzähle es nicht zum ersten Mal, die meisten aber haben es sicher vergessen: In diesem Wirtshaus an der Neckartalstraße starb im März 1876 der Revolutionsdichter Ferdinand Freiligrath an Herzversagen. Mit Berühmtheiten wie dem Autobauer Gottlieb Daimler und dem Komödianten Oscar Heiler ruht er heute in Frieden auf dem Cannstatter Uff-Kirchhof, während im Hasen zuweilen die Grabgesänge der VfB-Fans erschallen.

Keine zwei Jahre vor seinem Tod übermittelte Freiligrath seinem Kollegen Julius Wolff die hoffnungsvolle Botschaft: „Wir sind eben aus Stuttgart in die frische Neckarluft von Cannstatt übergesiedelt.“ Es herrschte also schon vor der Erfindung des Benzinmotors Staubalarm im Kessel. Die Luft, schreibt der Literaturwissenschaftler Jan Bürger in seinem Buch „Der Neckar – Eine literarische Reise“, „konnte einem schon auf die Nerven gehen, als die Pferdekutsche noch das wichtigste Verkehrsmittel war“. Dies belegt er mit Sätzen des Dichters Nikolaus Lenau, der 1844 in Stuttgart die „Ausdünstung des Teufels“ beklagte: „Verdammtes Kloakenthal! Die Luft ist zwischen diesen fleißigen und abgeschwitzten Weinbergen so dumpf u. matt, so verbraucht und beschmutzt, als wäre sie durch meilenlange Windungen von Eingeweiden hindurchgegangen, ehe man sie in Nase u. Lunge bekommt.“

Das kann nur heißen: Stuttgarts Klima ist das Ergebnis eines gewaltigen Dauerfurzes. Das Rathaus sollte nicht mehr Feinstaub-, sondern Flatulenzalarm auslösen. Das würde vor allem dem Umgang der Politik mit den Verkehrsinfarkten und Gestankattacken in unserer Stadt gerecht.

Wer sich am Alten Hasen zur Wilhelmsbrücke über den Neckar aufmacht, spaziert trotz des nervenden Verkehrs auf der Neckartalstraße in eine schöne Nische der Stadt hinein. Am rechten Ufer liegt der Neckarbiergarten mit Blick aufs Wasser. Ein erbaulicher Platz, eine dieser Wurstsalat-Oasen abseits betonierter Eingeweide. Wenn es dunkel wird, ist die Aussicht auf die Lichter am Fluss und auf die schimmernden Wellen ein Genuss. In dieser Umgebung hat der Spaziergänger endlich mal direkten Zugang zum Wasser, er schlendert am Ufer entlang und blickt auf Cannstatts malerische Altstadtkulisse. Angesichts des charakterlosen Umgangs mit dem Neckar auf Stuttgarter Boden erscheint mir diese Gegend wie ein Ferienort in der Fremde. Seltsam nur, dass es an einem so herrlichen Abend nicht mehr Menschen hineinzieht ins Herz von Cannstatt. Womöglich ist an dieser Stelle Gottlieb Daimler mit seinem weltweit ersten Motorboot vorbeigeschippert – im Sommer 1886, schon vor der Jungfernfahrt seiner revolutionären Motorkutsche.

Mehr als 40 Jahre zuvor hatte Heinrich Heine in seinem „Wintermärchen“ gedichtet: „Ich möchte nicht tot und begraben sein / Als Kaiser zu Aachen im Dome / Weit lieber lebt’ ich als kleinster Poet / zu Stukkert am Neckarstrome.“ Mit diesen Versen im Kopf sitze ich kleiner Neckarstromer zufrieden im Biergarten. Dieses Stukkert aber hat bis heute ein gestörtes Verhältnis zu seinem Fluss, der unsere Stadt nur als unerhebliche Durchgangsstation begreifen wird. Fast 370 Kilometer legt der Neckar von seinem Schwenninger Ursprung bis zu seiner Mannheimer Mündung in den Rhein zurück. Von Plochingen bis nach Mannheim, auf den 200 Kilometern dieses seit 1968 schiffbaren Wegs, überwindet er 161 Meter Höhenunterschied: Das entspricht der Turmhöhe des Ulmer Münsters.

Schon zehn Jahre vor dem Umbau des Neckarbetts fürs Industriegeschäft wurde der Stuttgarter Hafen eröffnet. Zurzeit feiert man seinen 60. Geburtstag. Am Rathaus hängt ein Transparent der Ausstellung zum Jubiläum im zweiten Obergeschoss. Die Schau trägt den – poetisch berührenden – Untertitel: „Über die Entwicklung einer wichtigen Logistikdrehscheibe in unserer Wirtschaftsregion“.

Über Zahlen und Technik wissen wir viel, etwa dass ein Neckarschiffer auf der Strecke von Plochingen nach Mannheim siebenundzwanzigmal eine Schleusenkammer, den Fahrstuhl der Flussfahrt, ansteuern muss. Unsereins ist jedoch kein Seemann und kein Industriekapitän, nur ein Spaziergänger, der von Zeit zu Zeit ran will an den Neckar, möglichst nahe, damit er mehr hat von seiner Stadt – und nicht dauernd von den Verbotsschildern der Strompolizei zurückgewiesen wird.

Was ist eine Stadt ohne Fluss? Für das Leben so bewegend wie ein Brunnen ohne Wasser.

Ankerplatz Wilhelmsbrücke. Im flimmernden Licht des frühen Sommerabends gehe ich durch eine Kulisse, wie sie nur der Fluss erschafft. Ein bisschen Großstadt. Die Dunkelheit am Wasser scheint die Ausdünstungen des Teufels zu schlucken. Und wenn ich die Ohren spitze, höre ich, wie mir unter der Brücke die Fische was husten. Ich bleibe stumm. Und weiß, was sie meinen.



 

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