Bauers Depeschen


Dienstag, 27. März 2018, 1923. Depesche



 



*** IN DIESEM JAHR FEIERN WIR 20 JAHRE FLANEURSALON ***

Meine allererste Leseshow fand 1998 im Gustav-Siegle-Haus statt

2018: Cannstatt, Hafen, Gustav-Siegle-Haus



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Die aktuelle StN-Kolumne:

STILLE, NIRGENDWO

Nach der langen, zermürbenden Kälte war es der erste sonnige Sonntag in diesem frühen Frühjahr, als ich auf dem Friedhof landete. Ich hatte nicht vor, Gräber zu besuchen. Gewissermaßen kamen sie mir auf den ersten Metern meiner Ziellosigkeit in die Quere. Doch niemand sollte deshalb von mir nun einen Friedhofsaufsatz erwarten.

In einem Erlebnisaufsatz, wurde mir in der Schule beigebracht, dürfe man immer nur ein einziges Erlebnis beschreiben. Später habe ich gemerkt, dass es im Leben nicht so viele Erlebnisse gibt, die für einen Aufsatz mit nur einem einzigen Erlebnis taugen. Deshalb bin ich nicht Erlebnisaufsatzschreiber, sondern Zeitungskolumnist geworden – und bastle auf engem Raum so lange verschiedene Erlebnisse zusammen, bis ich überzeugt bin, dass ich was erlebt habe.

Im vergangenen Jahr hat mich ein Kollege gefragt, ob ich nicht an einem ausgeschriebenen Friedhofsgeschichten-Wettbewerb teilnehmen wolle. Nein, sagte ich. Ohnehin hatte ich keinen einzigen Text, der ausschließlich von Friedhöfen handelte. Beim Herumspazieren in der Stadt sind Totenäcker für mich in erster Linie Pausenhöfe. Zwischenstationen. Natürlich sind Grabstätten auch Fundgruben. Schließlich -liegen auf unseren Friedhöfen berühmte Menschen, über die viele Bücher geschrieben wurden, von denen viele längst auf dem Bücherfriedhof ruhen.

Wenige Meter vor meiner Haustür ging ich über den Fangelsbachfriedhof, eine schöne, alte Anlage. Es war still. Eine Frau auf einer Bank schien leise ein Selbstgespräch zu führen, bis ich die Handystöpsel in ihren Ohren sah. Seit es keine Telefonzellen mehr gibt, kannst du nur noch auf dem Friedhof in Ruhe telefonieren.

Dann stand ich, ohne einen Blick in meinen Friedhofsführer geworfen zu haben, vor dem Grab der Familie Kreidler. Zwei Steine, rote Rosen. Ich las die Namen Anton und Alfred, und da wurde selbst mir als ewigem Fußgänger klar, dass es sich um die Väter berühmter Zweiräder handelte.

Als ich sechzehn war, gab es in unserem Dorf zwei soziale Klassen von Halbstarken: mit Moped und ohne Moped. Ich hatte keins, und bis heute erinnere ich mich, dass nach langer Indianerpferdeliebe mein größter Traum eine Kreidler-Florett war. Fünfzig Kubik, fünf, sechs oder auch ein paar Promille mehr PS. Die Technik interessierte mich nicht. Aber mit einer Florett hätte man aus dem Dorf hinaus in die Welt fahren können. Und auf dem Sozius wäre sogar Platz für eine Dame gewesen.

Als ich fünfzehn war, lief „Easy Rider“ mit Dennis Hopper, Peter Fonda und Jack Nicholson in unseren Kinos. Der Unterschied zwischen einer Harley Davidson und einer Kreidler-Florett wäre in meinem Augen so marginal gewesen wie der zwischen amerikanischen Highways und schwäbischen Landstraßen. Auch wusste jeder Dorfjunge, wie einfach sich eine Kreidler-Florett frisieren ließ. Dann lief sie wesentlicher schneller, und man hätte mit ihr womöglich Dennis Hopper auf seiner Harley eingeholt, bevor ihn Rednecks aus dem Sattel schossen. Später haben Rednecks Trump gewählt.

Die Firma Kreidler wurde 1889 in der Böblinger Straße 52 in Heslach als Stuttgarter Telegraphendraht- und Kabelfabrik gegründet, bevor sie in die Mörikestraße 69 und 1904 nach Kornwestheim umzog. Erst Anton Kreidler, später sein Sohn Alfred waren die Chefs. 1982 ging das Unternehmen in Konkurs, die Marke Kreidler wurde von einer anderen Firma über¬nommen.

Die zwei ehemaligen Kreidler-Gebäude in der Mörikestraße gingen in den Besitz der Stadt über. Lange standen sie leer, bis sie in den Achtzigerjahren besetzt wurden. Nach zähen Verhandlungen konnte sich das basisdemokratisch geführte Wohnprojekt „Fabrik Heslach“ in den Häusern einnisten. Diese Initiative gibt es seit mehr als 30 Jahren, inzwischen auch als Verein.

All diese Geschichten kann dir nicht allein der Friedhof erzählen, schon weil dein Blick an einer Mauer endet, von der Mark Twain einmal gesagt hat, sie sei die sinnvollste Investition überhaupt: „Die, die drinnen sind, können nicht hinaus, und die, die draußen sind, wollen nicht hinein.“

Von den Zusammenhängen zwischen Vergangenheit und Gegenwart erfährst du erst, wenn du mithilfe deines Taschentelefons über die Mauer schaust.

Warum aber bin ich auf dem Friedhof gelandet? Weil ich tags zuvor etwas Lautes erlebt hatte, über das man lange Aufsätze schreiben könnte. Ich nahm an der von vielen Gruppierungen unterstützten Demonstration in Kandel gegen den Aufmarsch der Rechten und der Nazis teil. Die kleine Stadt liegt nur eine Viertelstunde mit der Bahn von Karlsruhe entfernt. Anderntags hatte ich das Bedürfnis nach Luft und Stille. Da kam mir auf meinem Spaziergang der Fangelsbachfriedhof als Pausenhof gerade recht.

Nachdem ein junger Flüchtling im vergangenen Dezember in Kandel seine 15-jährige deutsche Ex-Freundin mit einem Messer getötet hat, ist die Gemeinde Schauplatz politischer Auseinandersetzungen. Dieses Kapitel würde ich in meiner Erlebniskolumne heute nicht erwähnen, führten die Spuren nicht wieder vor die eigene Haustür. Der jüngste Aufmarsch von Fremdenfeinden und Rassisten war von der Politikerin Christina Baum unter dem Motto „Kandel ist überall“ angemeldet worden. Die promovierte Zahnärztin sitzt als ¬AfD-Abgeordnete im Stuttgarter Landtag. Nicht lange her, da hörte ich sie dort den „Untergang des deutschen Volkes“ heraufbeschwören. Es ging um eine von der AfD beantragte Debatte über die sogenannten UMA – ein im Parlament gefühllos-routiniert gebrauchter Begriff für unbegleitete, minderjährige Ausländer (Flüchtlinge).

Die Situation in Kandel erscheint nur auf den ersten Blick absurd. Anlass ist ein totes Mädchen, Opfer einer noch nicht verhandelten Beziehungstat. Als es starb, war es so jung wie unsereins in seiner Kreidler-Phase. Das Verbrechen wird ausgeschlachtet, als handle es sich um ein politisches Attentat. Ein Akt widerlicher Propaganda.

Ich muss heute mit Erlebnissen umgehen, die ich so noch nie erlebt habe. Es liegt etwas in der Luft. Und die Luft ist mies.





 

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