Bauers Depeschen


Samstag, 27. Dezember 2014, 1400. Depesche



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LIED DES TAGES



LIEBE GÄSTE,

die Menschen steuern auf das neue Jahr zu, planen die Zukunft, und vorsichtshalber mache ich nichts. Die Zukunft kommt ja meist von allein. Ich darf noch mitteilen, dass der erste Flaneursalon 2015 auf Einladung der örtlichen Weingärtner in der Uhlbacher Kelter, einem wunderschönen Kellergewölbe, über die Bühne geht. Mit Eric Gauthier & Jens-Peter Abele, Dacia Bridges, Michael Gaedt & Anja Binder.

Karten: VORVERKAUF



Eine Depesche aus der Vergangenheit:



KURZ VOR TEXAS

Bohrender Stuttgart-Blick, vom Birkenkopf in den Kessel. Der Berg ist mit 511 Metern der dritthöchste der Stadt. Bis 1953 war er 40 Meter niedriger, dann haben die Bürger fünf Jahre lang die Trümmer des Nazi-Terrors und des Zweiten Weltkriegs aus dem Tal auf den Birkenkopf gekarrt und ihn „Monte Scherbelino“ getauft.

Ein zehn Meter hohes Stahlkreuz macht den Ort zum Mahnmal; in den Anfangsjahren des Trümmerbergs haben die Stuttgarter Nachrichten ein Kruzifix gestiftet, 2003 wurde ein neues aufgestellt: 2400 Kilo schwer, finanziert mit Spenden. Der Scherbelino, liest man, stehe den Toten zum Gedenken und den Lebenden zur Mahnung. Wie immer in solchen Fällen hat man diese Warnung in den Wind geschlagen. Deutsches Militär zieht in immer neue Kriege.

Warum erzählt mir der Kerl das alles, werden Sie sagen, den Monte Scherbelino kennt doch jedes Kind. Erstens glaube ich das nicht, und zweitens wurde manches Kind nur geboren, weil Mutter und Vater eines Tages den Birkenkopf erklommen und sich auf dem Gipfel dann gegenseitig bestiegen, um sich ewige Treue zu schwören. Der Trümmerberg war lange der Liebeshügel.

Eine Fußwanderung – vom Westen über die Reinsburgstraße hinauf in den Dachswald bis zum Kreuz und wieder zurück – dauert mit kurzen Pausen drei Stunden. Stuttgart kann nur begreifen, wer vom Scherbelino ins Tal schaut. Bleibt man immer nur unten, entsteht der Drang, immer tiefer zu sinken. Das Problem ist bekannt und wäre längst ein Grund, vor den heimischen Rindviechern nach Texas zu flüchten.

Den Stuttgartern sind viele Stuttgarter Dinge unbekannt. Bei der Langen Nacht der Museen im Frühjahr 2011 habe ich an einer Hafenrundfahrt teilgenommen, einer Tour mit wundersamen Licht-Installationen am Ufer; Studenten der Kunstakademie inszenierten den Fluss mit geheimnisvollen Bildern. Die mehr als ein halbes Jahrhundert alte Existenz des Neckarhafens wird einem spätestens bewusst, wenn das Schiff an einem Lagerhaus mit der denkbar schönsten Poesie der Fassadenwerbung vorbeifährt: "Kauf Frießinger Mehl – und du gehst nicht fehl." Unterwegs auf dem Boot gestand mir die mich begleitende Dame, vor unserer Fahrt sei sie noch nie auf dem Neckar gewesen. Das ist typisch. Die Dame wurde mitten in Stuttgart geboren und ist heute auch nicht mehr unbedingt im Freischwimmer-Alter.

Bevor der Staat Ausländer zu Deutschkursen zwingt, müsste man jedem Stuttgarter eine Scherbelino- und eine Neckar-Tour verordnen. Stuttgart hat man früher "Lichterstadt" genannt, und das begreift nur, wer hinunterschaut vom Trümmerberg und das Glitzern des Flusses sieht. Nicht erst bei Einbruch der Dunkelheit und am Silvesterabend, auch am hellichten Tag kann man sehen, wie einem die Stadt zu Füßen leuchtet.

Die Politiker haben nie etwas dafür getan, den Menschen die Besonderheiten des Talkessels nahezubringen. Die erste halbwegs gezielte Stadtwerbung gab es 1993 anlässlich der Leichtathletik-WM in Stuttgart. Seitdem nimmt das Imitsch-Getue mit seinen Großkotz-Kampagnen seinen Lauf. Nie hat man die liebenswerten Eigenschaften gebündelt, die historischen Ereignisse so zusammengetragen und dargestellt, wie es die Stadt verdient hätte. Es gab Zeiten, da war das Leben in Stuttgart mondäner als heute, da war die Stadt viel städtischer als heute. Kaum einer weiß es.

Die heutige Werbung beschränkt sich auf zahlenorientierte Touri-Anmache mit Rummelzelten, Automuseen und Einkaufszentren. Auf diese Weise kommen die Leute der Stadt nicht näher als auf Party-Touren mit dem Adrenalin einer langen Nacht. Eines Tages, wenn die Immobilienhaie genug gebohrt, zertrümmert und verschandelt haben, um ihre Milliarden einzufahren, werde ich vom Monte Scherbelino in den Neckar springen. Bis dahin aber bleibe ich an Bord und bewahre mir meinen Lieblingssatz von Kurt Weidemann, dem großen, 2011 verstorbenen Typografen und Lebensratgeber: "Wem in Stuttgart nichts einfällt, der kriegt auch in Texas nichts hin."



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