Bauers Depeschen


Mittwoch, 19. Januar 2011, 660. Depesche



Die aktuelle STN-KOLUMNE ist im Netz.



Eine kleine, seltsamerweise nur wenige Jahre alte Geschichte:



DER STIFT

Ich fuhr im Bus der Linie 42 vom Rosenbergplatz Richtung Hauptbahnhof. Zuerst wollte ich am Katharinenhospital aussteigen und in der Bolzstraße ins Kino gehen. Unterwegs hörte ich dem Gespräch meiner Sitznachbarn zu und wurde neugierig. Am Katharinenhospital vergaß ich auszusteigen und fuhr mit gespitzten Ohren weiter.

Zwei Jungs, der eine schätzungsweise 18, der andere 16 Jahre alt. Sie redeten deutsch. Wortwahl, Aussprache auffallend präzise. Leichter Akzent. Vielleicht Türken. Ich hätte sie fragen können, wollte aber das Gespräch nicht unterbrechen.

Der Ältere sagte: "Wenn du eine Sprache lernen willst, dann reicht es nicht, viel zu lesen. Alle sagen, du musst viel lesen. Lesen ist gut, aber das ist nicht alles. Das reicht nicht."

Der Jüngere sagte: "Ich lese viel. Das ist schon stressig genug. Was soll ich denn sonst noch machen?"

"Schreiben", antwortete der Ältere, "du musst schreiben. Es kommt gar nicht darauf an, was du schreibst. Einfach irgendwas. Du kannst ein Tagebuch schreiben, du kannst einen Kommentar über ein Fußballspiel in deinen Computer schreiben, du kannst Briefe schreiben. Wichtig ist, dass du dauernd schreibst."

Seltsame Typen, dachte ich, die reden über die Wichtigkeit des Schreibens, statt sich wie die anderen im Bus Stöpsel in die Ohren zu stopfen. Oder wie ich die Nachbarn zu belauschen.

Wer eigentlich, überlegte ich, hat noch Lust zu schreiben, wenn er nicht gerade seine Kohle damit verdient oder auf den Durchbruch im Poetry-Slam-Geschäft hofft. Im Alltag genießt Schreiben kaum noch Ansehen. Geschäftsbriefe von Weltfirmen sind seit Jahren unter aller Sau formuliert. Die Faxe erlaubten bereits alle denkbaren Schludrigkeiten, und seit E-Mail und SMS ist es ohnehin wurscht, ob ein Analphabet oder ein Komiker dahinter steckt. Viele, die heute für Komiker gehalten werden, sind Analphabeten. Mangels Schreib- und Sprachkenntnis täuschen sie Laute vor, als könnten sie furzen. Doch auch von dieser Kunst verstehen sie nichts.

Die Jungs im Bus erinnerten mich an eine Geschichte des New Yorker Schriftstellers Paul Auster, man findet sie in seinem Essay- und Interviewband "Die Kunst des Hungers". Paul Auster war acht Jahre alt, als er 1955 mit seinen Eltern ein Baseballspiel der New York Giants besuchte. Die Giants waren seine Helden, und der größte hieß Willie Mays. Willie Mays war ein Gott. Als Paul mit seinen Eltern nach der Partie das Polo Grounds Stadium verließ, mussten sie an den Spielerkabinen vorbei. In diesem Augenblick trat Willie Mays heraus. Dem kleinen Paul wurde schwindlig, doch er nahm sich ein Herz, ging auf den Baseballspieler zu und sagte: "Mr. Mays, können Sie mir bitte ein Autogramm geben?"

"Sicher, Junge", antwortete der Giants-Star Willie Mays. "Hast du was zum Schreiben?"

Hatte er nicht. Auch nicht Pauls Vater, nicht die Mutter. "Tut mir Leid, Junge", sagte der große Willie Mays. "Ohne was zum Schreiben gibt's kein Autogramm." Danach verschwand er in der Nacht.

Paul Auster berichtet, wie er lange heulte, weil ihn das Leben auf die Probe gestellt und er versagt hatte. "Seit jenem Abend", schreibt er, "trug ich immer einen Bleistift bei mir." Nie mehr wollte er sich mit leeren Händen erwischen lassen.

"Wie ich meinen Kindern gern erzähle", so endet Paul Austers Geschichte, "bin ich auf diese Weise zum Schriftsteller geworden."

Eines Tages, schätze ich, wird mir auf der Linie 42 ein Dichter begegnen.

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