Bauers Depeschen


Samstag, 25. Dezember 2010, 644. Depesche



BABY, DRAUSSEN IST ES KALT

Der Mond hing voll und rund an seinem Stammplatz, wie der letzte Gast der Weihnachtsfeier. "Weihnachtsabend war's", hat der Dichter Robert Walser geschrieben, "die Stadt lag klug und schön da."

Ein einziges Mal, dachte ich, möchte ich meine Stadt "klug" da liegen sehen, nur um zu erfahren, wie schön sie ist. Das Lichterspiel am Bahnhofsturm flackerte blass, als sende es die letzten SOS-Signale. Bald würden die Bagger kommen, und den Hindenburgbau gegenüber würden sie verschonen. Ich weiß nicht, warum dieses Gebäude immer noch so heißt. Längst hat sich herumgesprochen, dass es in Hindenburgs Hirn zur Weihnachtszeit nicht nur leise rieselte: Fünf Wochen später hat er Hitler zum Reichskanzler ernannt.

Noch täuschte das Glitzern auf den Gehsteigen. Nicht der Schnee, der es dem Dichter Walser so sehr angetan hatte, dass er sommers kein Gedicht schreiben konnte, war über die Stadt gekommen. Es war der Frost, es war hundekalt, und Gablenberg, erzählte mir der Busfahrer, hatte mehr Raureif abgekriegt als der Killesberg.

Killesberg-Gärten haben Rasenheizung.

Am Crèpesstand im Bahnhof bestellte ich Apfelmus. Weihnachten ist tote Hose, sagte der Verkäufer. Keiner hat Zeit für Apfelmus. In Kürze werden die übrig gebliebenen Tannenbäume zu Holzschnitzeln verarbeitet, im Frühling beginnt das Baumschneiden, und schon im Sommer werden die Bäume in die Preiskategorien fürs nächste Weihnachtsfest eingeteilt. Der Trend geht nach der Minimode zu teuren Öko-Bäumen, die bis zur Decke reichen. Wir dürfen eine gute Baumkonjunktur erwarten. Staubsaugervertreter, Dieselkombiverkäufer und Scheidungsanwälte werden davon profitieren.

Weihnachten war so gut wie gelaufen, als ich vom Bahnhof kam. Der Drehorgelspieler in der Königstraße kassierte zu Recht nur kleines Klimpergeld. Man kurbelt am zweiten Feiertag nicht "Stille Nacht" herunter. Es gibt auch nicht ewig Vollmond.

Man hatte mich an Heiligabend zum Weihnachtsliedersingen bestellt. Die Festgesellschaft versammelte sich um das Klavier des Musikers, alle sangen, und ich versteckte mich in einer Ecke. Als das Konzert beendet war, fragte man mich, wie ich das Weihnachtssingen gefunden hätte. Gut, sagte ich, ich hätte jetzt mehr Verständnis für die Talibans.

Später stieg ich die Treppe aus der U-Bahn zur Marienstraße hoch, und zum ersten Mal im Jahr stank es nicht nach Imbissbudenfett. Der Frost hatte den Gestank eingedost, und aus dem Kellerclub in der Passage drang nicht wie sonst Schüttelfrostmusik.

Weihnachten bringt einige Vorteile in die Stadt. Nicht nur im Weltweihnachtscircus auf dem Wasen gibt es Sensationen, die länger leben als einen Tag. An Weihnachten erweitert sich das Universum: Im Westen der Stadt konnte ich erstmals freie Parkplätze sehen. Beinahe hätte ich mir einen schwarzen Mercedes gemietet, nur um zu sehen, wie der Raureif das Dach des Wagens weiß lackiert.

In der Liederhalle hatte die Rat-Pack-Show mit Frank Sinatra, Dean Martin und Sammy Davis jr. begonnen, womöglich zu früh: Wiederauferstehungen gibt es bei uns normalerweise erst kurz bevor die ersten Nikoläuse in den Läden stehen, meistens gegen Ostern.

"Baby It's Cold Outside", singen Sinatras Ratten. Mit dem Mercedes sind sie vom Himmel herabgerauscht, draußen ist es kalt, Baby, das ist wahr, und ich habe die nackte Haut unter dem verrutschten Pulli der Dame gesehen, als sie vor dem Eiscafé Venedig in der Königstraße ihr Freiluft-Mobilar entfesselte. "Zwei Kugeln Banane, Lady", hätte ich gern gesagt, "und nach Silvester höre ich mit dem Rauchen auf - unter der Dusche." Aber ich bin nicht Frank Sinatra, und noch ist nicht Silvester. Im Kunstmuseum am Schlossplatz fand ich ein Buch von Dieter Roth; der Fluxus-Künstler hat oft in Stuttgart gewirkt und uns mit Gedichten getröstet:

"Balle balle / Knalle / Wann knalln wir in der Halle? / Wir ballern / wenn der Knaller kommt / und knallern / was dem Baller frommt! / Knalle Knalle / Balle / So ballerts / in der Halle."

Dann ballerte die Schneekanone, die schwarzen Mercedesdächer färbten sich weiß, es war der zweite Weihnachtsfeiertag.

Am ersten Weihnachtstag 1956 ist der Dichter Robert Walser wie so oft in seiner geliebten Winterlandschaft spazieren gegangen. Als man ihn fand, lag er tot im Schnee.

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