Bauers Depeschen


Dienstag, 14. Dezember 2010, 638. Depesche



ABWESENHEITSNOTIZ

Bin bei der "Nacht der Lieder" im Theaterhaus.



LETZTE LADUNG

Am kommenden Sonntag machen wir in der Vaihinger Kneipe Maulwurf eine kleine Flaneursalon-Matinee mit Zam Helga, Dacia Bridges und dem Vorleser. Beginn: 11 Uhr. Es gibt noch Plätze.



BETR.: GRÜNE

Am Montagabend wurde ich als Gastredner zur Feier der Grünen anlässlich ihrer Fraktionsgründung vor 30 Jahren im Stuttgarter Gemeinderat bestellt. Der Stehempfang fand im Rathaus statt; hier mein Vortrag:



Guten Abend meine Damen und Herren,

überall ist zu lesen, ein tiefer Riss gehe durch Stuttgart. Das bedeutet: Wir sind mittlerweile die berühmteste geteilte Stadt der Welt nach Jerusalem und Böblingen-Sindelfingen.

Das ist heute meine Antrittsrede im Rathaus, mit Sicherheit auch meine letzte, sie kommt mit einiger Verspätung. Ursprünglich war sie für den 30. September geplant. Damals wollten die Grünen hier groß in Champagner baden. Dann aber fiel das Ding ins Wasser, man ging zum Duschen in den Schlossgarten.

Mir ist nicht ganz klar, warum man für ein Geburtstagsfest ausgerechnet das Rathaus wählt. Auf dem Hoppenlaufriedhof herrscht, obwohl der Ort mangels städtischer Kohle völlig heruntergekommen ist, vergleichsweise blühendes, kreatives Leben.

Womöglich empfinden die Grünen das Paternoster-Fahren im Rathaus extrem erregend, dieses für Politikerinnen oder Politiker unersetzliche erotische Gefühl: Man rauscht dauernd im freien Fall nach oben.

30 Jahre sind kein Pappenstiel, meine Damen und Herren, die Grünen sind heute zehn Jahre älter als die deutsche Republik und nur zehn Jahre jünger als die DDR, das Land, in dem sie ihre Wurzeln haben. Die Stuttgarter Nachrichten haben vor 30 Jahren die Grünen mit Gänsefüßchen geschrieben, so wie die Bildzeitung die DDR.

Es ist seltsam, ich habe keine präzisen Bilder mehr vor Augen. Die Anfangszeiten der Stuttgarter Öko-Beutel mit ihren giftigen Jutesäcken in der Hand, die Träger von Sandalen des Neonazi-Sponsors Birkenstock verbinde ich bis heute mit einem kleinen Berliner Erlebnis.

Im Sommer 1979 machte ich Urlaub am Chamissoplatz in Kreuzberg. In diesem Bezirk gab es es eine Kneipe namens Schlemihl. Den Schlmihl kennen Sie, das ist Adalbert von Chamissos literarischer Held, der seinen Schatten für einen Sack Gold an den Teufel verkauft. Eine Art Cem Özdemir, der sich Leuten wie Hunzinger an den Hals wirft, um seinem Schattendasein im Migrationshintergrund zu entkommen

Auf der Theke im Schlemihl spielte eines Abends die Kabaretttruppe „Die 3 Tornados“. In der Pause sammelten sie Geld für die Rote Hilfe. Diese Show war das Größte, was ich bis dahin in meinem globalen Leben zwischen Schwäbisch Gmünd und Stuttgart gesehen hatte. Die drei Tornados waren wild und links und selbstironisch - eine den Grünen unbekannte Eigenschaft. Sie nahmen die Ökos und Alternativos aufs Korn und sangen Kampflieder wie dieses: „Wer hat stets ein Flugblatt in der Hand / Wer malt Parolen an die Wand / Wer fährt immer schwarz / Wer gibt keine Ruh / und klebt die Fahrscheinautomaten zu. - Flipper, Flipper / der Freund aller Kinder.“

Beim Fuseltrinken im Schlemihl kam ich mit den drei Herren ins Gespräch und erfuhr, dass sie in wenigen Tagen in Stuttgart auftreten würden.

Mann, dachte ich, jetzt wird alles gut: Bald weht der Kreuzberger Wind über den Marktplatz, das wird ein politischer Hurrikan. Der Friedhof lebt. Rasch setzte ich mich hin und schrieb einen langen Bericht über die Tornados, den ich per Telefon nach Stuttgart durchgab.

Tatsächlich spielten sie am 9. 9. 79 in Stuttgart, und zwar für eine der Gründungsveranstaltungen der Alternativen Liste in der Liederhalle. Das muss man sich heute mal vorstellen: Die Tornados waren kiffende Anarchos, Spontis im Umfeld der Hausbesetzer-Szene, sie spritzten mit Bier auf der Bühne herum, sie beleidigten Franz-Josef Strauß und Maria und Josef und sangen eine Hymne auf Opa Krummwiede, der sein Haus gegen Bauspekulanten mit der Schrotflinte verteidigte.

In Stuttgart aber gab es nicht mal einen Laden, der Leuten wie den Tornados eine Bühne bieten konnte. Kein Theaterhaus. Es gab überhaupt nichts in Stuttgart – außer RAF-Nachwehen. Weit und breit keine anständige Kneipe für die Nacht. Nach zwölf musste man sich per Klopfzeichen einen konspirativen Thekenplatz erkämpfen und danach vor den Bullen zittern. Meistens aber, nachdem man bei zehn Grad minus zwanzig Minuten lang an die Kneipentür geklopft hatte, erhielt man wie bei der Widmerin in der Leonhardstraße den Tipp des Tages: „Ganget no, wo er herkommat.“ Die Grünen waren diesen Spruch ja gewohnt.

Es war trostlos und würdelos in unserer schönen Stadt. Die Grünen waren deshalb die meiste Zeit in Apulien, um den armen Bauern den Rotwein wegzunehmen. Lange wusste ich nicht, wo sich die Alkoholiker von der SPD und der CDU herumtrieben. Später erfuhr ich, das Lothar Späth mit seinen Kumpels Rudi und wie sie alle hießen die führenden Häuser von Reutlingen bevorzugte. Man reiste im Mercedes zum betreuten Alterssex.

In dieser Phase tauchten die Grünen auf. An die Namen kann ich mich kaum noch erinnern. Thomas Schaller hieß einer, ein anderer Michael Kienzle, von dem man sagte, er renne mit Beil und Säge durch die Wälder auf den Fildern, um die freie Natur zu jagen. Er hatte auch Hühner und eine Latzhose, um von seinem Bart abzulenken. An die Luden-Scharniere eines Cem Özdemir wäre er allerdings nie rangekommen.

Solche Kerle schienen kaum dafür geeignet, tags ein Dixi-Klo geschweige denn nachts eine Bar zu stürmen. Von Joschka Fischer wusste ich damals noch nichts. Fischer hatte schon zehn Jahre zuvor in einem Keller des Leonhardsviertels den ewigen Alternativen Peter Grohmann einen kleinbürgerlichen Scheißer geheißen, als der ehemalige DDRler zur Erfüllung seines Fünf-Jahres-Plans auf dem Hygiene-Gebiet die verwanzten Wände des Club Voltaires mit weißer Farbe streichen wollte. Dort tagten nämlich nicht nur die Kommunisten, hier spielten auch Herrschaften wie Wolfgang Dauer und Reinhard Mey.

Das Nachfolge-Etablissement des Club Voltaire hieß Bierorgel. Für Fischer war das die Bio-Variante der Stalinorgel.

Das Rotlichtviertel in der Altstadt war neben der Weißenhofsiedlung der einzige Stuttgarter Ort mit urbaner Qualität. Provinzler wie Rezzo Schlauch hatten in diesem Revier des professionellen Sexual-Managements nie eine Stimme im Parlament – gaben aber immer und überall damit an.

Das Rotlicht wurde für die Grünen erst 2010 ein Thema, als Frau Brigitte Lösch ankündigte, der VORSTOSS der Sozialministerin Stolz, beim käuflichen Geschlechtsverkehr Kondompflicht einzuführen, gehe ihr nicht WEIT genug. Die Weite des sexuellen Vorstoßes, das habe ich in den vergangenen 30 Jahren gelernt, ist schwer zu kontrollieren. Der erotisch integrierte Schwabe benennt das Problem deshalb mit unschlagbarer Logik: Man steckt halt net drin.

Früher dachte ich, die Grünen seien gescheiter als andere Politiker. Später sagte ich mir: Vielleicht sind sie intelligenter – raushängen tun sie es jedenfalls nicht.

Vor 30 Jahren glaubten einige Grüne wie ihr Starthelfer Rudi Dutschke noch an die Diktatur des Proletariats - und sie behielten recht: Heute HABEN sie Cem Özdemir. Der konnte sich in Bad Urach ja nie richtig integrieren. Heute wohnt er unter den schwäbischen Türken von Kreuzberg.

In den achtziger Jahren zogen die Stuttgarter Grünen unter dem Kommando des Naturburschen Kienzle vorzugsweise gegen Popgruppen wie Abba in den Krieg, weil die Schweden statt Selbstgestricktem Plastik-Klamotten trugen. Dann aber, als sich die Grünen die Texte von Udo Jürgens altersbedingt nicht mehr merken konnten, wurden sie selber Abba-Fans. Das muss etwa zu der Zeit gewesen sein, als Anjte Vollmer sagte: „Die Grünen von heute sind eine FDP mit Fahrrad“ – ja, dachte ich, das ist wahr: Jedes Mal, wenn ich durch den Stuttgarter Westen gehe, sitzt der Werner Wölfle drauf.

Heute sind die Stuttgarter Grünen vorzugsweise im Bahnhofsgeschäft tätig, ihre großen Ziele sind verwirklicht: Es gibt den gelben Sack und die Renaissance der Luftpumpe. Wenn es die 3 Tornados noch gäbe, müssten sie jeden Montag solidarisch vor dem Bahnhof spielen. Vielleicht würden sie aber auch sagen: Mann, wenn ihr 20 Minuten schneller in Ulm sein wollt, dann nehmt doch einfach einen früheren Zug.

Meine Damen und Herren, Stuttgart hat sich entwickelt. Die Kneipen haben nachts geöffnet. Die Grünen haben viel Feinstaub bei ihrer Annäherung an die Schwarzen aufgewirbelt - und Heiner Geißler die Scheindemokratie durch die ScheinWERFERdemokratie ersetzt. Jetzt muss der Laden nur noch richtig regiert werden. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch und schöne Bescherung... (siehe Lesersalon)

SOUNDTRACK DES TAGES



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Vielleicht mal, wenn es S 21 erlaubt, einen Blick auf:

GLANZ & ELEND



DIE STN-KOLUMNEN



FRIENDLY FIRE:

FlÜGEL TV

VINCENT KLINK

UNSERE STADT

KESSEL.TV

EDITION TIAMAT BERLIN (Hier gibt es mein Buch "Schwaben, Schwafler Ehrenmänner - Spazieren und vor die Hunde gehen in Stuttgart")

www.bittermann.edition-tiamat.de (mit der Fußball-Kolumne "Blutgrätsche")













 

 

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