Bauers Depeschen


Sonntag, 27. Juni 2010, 526. Depesche



MY BLACK BOULEVARD (11) - heute sehr frisch



Nur mal als Kostprobe, das habe ich heute während des Spiels Deutschland - England im Biergarten im Schlossgarten als Kolumne getippt:



HALLELUJA, DER TURM STÜRZT EIN

SOUNDTRACK DES TAGES



Der Fußballpartywahn geht weiter, wilder, lauter als je zuvor. „O, wie ist das schön“, brüllen sie, und in der Tat habe ich so was lange nicht geseh’n. Nach unserer harten Kneipentour war noch Luft nach oben. Diesmal schwitzen wir unter freiem Himmel. 30 Grad im Schatten. 7000, 8000 Menschen in Open-Air-Ekstase. Die ersten sind am Morgen angerückt: Geh mer Engländer grillen im Park. Im German Beergarden, der fetten Symbolstätte der Krauts.

Keine Ahnung, wie Sonja Merz, die Wirtin im Schlossgarten, den Überblick in der grünen Hölle hinterm Hauptbahnhof bewahrt. Eigentlich bräuchte man für die Logistik dieses Unternehmens einen Fünf-Sterne-General. Als die Engländer einst den deutschen Fußball mit poetischen Bildern wie „Panzer“, „Hunnen“ und „Blitzkrieg“ würdigten, konnten sie nicht wissen, dass der Lärm der deutschen Fußballpartys eines Tages den Pegel konventioneller Luftangriffe überschreiten würde.



Vor dem Spiel haben im Garten die Hurricanes gespielt, 60er-Jahre-Hits, ohne Rücksicht auf britische Hymnen. Einmal konnte ich „Wild Thing“ von den Troggs erkennen. Was sich im Schlossgarten abspielt, kann man meinetwegen Fußball nennen. Richtig wäre: Rock im Park, Abteilung Schwermetall mit Hörsturz-Option. Fußballer sind die Popstars unserer Tage. Weit weg, aus den Wolken singt weinend einer der Sex Pistols: „God save the Queen“.

Bei uns regieren die Teutonen. Vor Spielbeginn stehen Tausende auf, die Hände an den Hosennähten, singen sie die deutsche Nationalhymne. Blüh’ im Glanze . . . viele junge, schwarz-rot-gold geschminkte Gesichter glänzen vor Glück und Bier, und bald wechselt der Text: „Deutschland ist der geilste Club der Welt.“

Neben mir sitzt Duncan Bowen, englischer Gitarrist, Sänger, Songschreiber, Wahlheimat Stuttgart. „Wir gewinnen 2:0“, sagt er, „bei Wayne Rooney platzt der Knoten.“ Drei weitere Biertisch-Gäste haben sich zu mir durchgeschlagen, die Fotografin Heike Schiller, die Sängerin Dacia Bridges (in Trauer, USA rausgeflogen), der Gitarrist Alex Scholpp. Unsere Tisch-Besetzung ist kein Zufall: Ohne Gage setzen sich diesem Höllentrip nur geisteskranke Rock’n’Roller aus.

20 Minuten vorbei, Herr Klose, den mancher Bayer lieber im Biergarten kellnern als auf dem Fußballplatz stürmen sähe, schießt das 1:0. Im Park gehen neben Emotionen auch Idiotenfäuste in Knockout-Absicht hoch. Wild thing, you make my heart sing . . . Die Security hat alles im Griff.

Gott schütze den Schlossgarten, es geht Schlag auf Schlag: 2:0 Podolski, 2:1 Upson. Und dann ist der Ball – bis Stuttgart sichtbar – so weit hinter der deutschen Torlinie, dass man Wembley 66 für immer vergessen kann. Der Treffer zählt nicht. „The Battle of Bloemfontein“ geht weiter, und ich freue mich auf die englischen Schlagzeilen.

Pause. Disco-Beschallung. Landeier-Tanz. „Das leidenschaftlichste Spiel, das ich bei dieser WM gesehen habe. Und Klose, mein Junge, ist zurück“, sagt Dacia. „Unsere Buben kombinieren heute saugut“, sagt Heike. „Die Deutschen sind uns spielerisch überlegen, aber wir können noch mit Kampf gewinnen“, sagt Duncan.

Wo ist Alex? Hängt irgendwo unter einem Baum und guckt per iPhone. Er kommt, bleich: „Hoffentlich kein Elfmeterschießen! Ein großes und faires Spiel. Endlich wird klar, dass sich unser Team bei dieser WM nicht verstecken muss.“

Diese Sätze sind das Ende kurzzeitiger Sachlichkeit. Mit Worten lässt sich die Orgie vor den Riesenleinwänden nicht mehr beschreiben. Fremde Menschen prügeln mich weich, als Müller das 3:1 und gleich darauf das 4:1 schießt. Bier schwappt über mein Notebook, die Tasten beginnen zu kleben, Gesichtszüge geraten außer Kontrolle. Es ist ein dröhnendes, ein hammerhartes, aber auch ein friedliches Fest. Weiß der Teufel, was an diesem 27. Juni 2010 sich alles unter dem Junihimmel über dem Park entlädt. Hinter der Leinwand, zwischen den Bäumen, ragt die Spitze des Bahnhofsturms ins Blaue. Mir scheint, er wankt im deutschen Sturm.



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