Bauers DepeschenSonntag, 04. Januar 2009, 271. DepescheIM PENTHOUSE Es war Nacht, und ich wusste nicht, ob der Regionalexpress gerade in Schorndorf hielt oder schon in Endersbach. Ich sah nichts, obwohl ich im oberen Stockwerk saß, im Penthouse der schwäbischen Eisenbahn. Es war Nacht, und es regnete Eis, als ich im Regionalexpress fuhr. Nachts, wenn es regnet oder schneit, bringt das obere Stockwerk im Regionalexpress keinerlei Vorteile, was die Weit- und Weltsicht betrifft. Ein Provinzler wie ich neigt dazu, im Oberdeck der öffentlichen Verkehrsmittel Platz zu nehmen, etwa im Oberdeck eines Großstadtbusses. Es ist ein weltmännisches Gefühl, auf eine Großstadt herabzuschauen, ehe man unter dem Gelächter der anderen Fahrgäste die Treppe des Busses hinunterfliegt, weil man es nicht gewohnt bist, in einem fahrenden Stadtbus die Treppen hinunterzusteigen. Steigt man nicht hinunter, solange der Bus noch fährt, sondern erst dann, wenn der Bus schon hält, kommt man unten erst an, wenn der Bus schon wieder wegfährt. Dann wird noch mehr gelacht. Zwischen Weihnachten und Neujahr ist Regionalexpresszeit. Regionalexpresszüge fahren zurück in die Vergangenheit, oft in eine dunkle. Regionalexpresszüge sind Geisterbahnen, nicht nur bei Eisregen wie damals in diesem harten Winter, von dem ich berichte. Mein Regionalexpress hatte Verspätung, was mich nicht besonders hart traf, weil ich auf Verspätungen eingestellt bin. Zugverspätungen sind ärgerlich, wenn du an einer Regionalexpress-Haltestelle stehst und aufs Klo musst. Nirgendwo fühlst du dich einsamer als an einer Regionalexpress-Haltestelle. Kein Gebüsch, das dich schützen könnte. Nur asphaltierte Parkplätze, ein Fahrkartenautomat und deine Schwellenangst. Vielleicht noch ein paar Dorfbanditen mit Wollmützen auf der Haltestellenbank. Wer im Regionalexpress sitzt, weil er an einer Regionalexpress-Haltestelle geboren wurde, weiß, dass er zu spät gekommen ist. Wer an einer ICE-Haltestelle geboren wurde, wird ein ICE-Mann bleiben, auch wenn er sich später an einer Regionalexpress-Haltestelle niederlässt. Wer an einer Regionalexpress-Haltestelle geboren wurde, braucht nur einen Blick in seinen Personalausweis zu werfen, und er weiß, warum er nie ein ICE-Mann werden wird. Jesse James hätte nie einen Regionalexpress überfallen. Es gibt ein Regional-Express-Schicksal. Ein Regionalexpress-Leben. Ich begriff es, als ich kurz nach Bad Cannstatt von einer Stimme geweckt wurde, die kälter und schneidender war als der Eisregen. Die Frauenstimme kündigte in lautem Schwäbisch das Ende der Reise und die Ankunft in Stuttgart an. Als die Durchsage der Anschlussmöglichkeiten nach Karlsruhe, Rottweil und Ulm die schlechten Lautsprecher vollends überforderte, hörte ich ein Donnergrollen, als sei der Regionalexpress aus den Schienen gesprungen. Wer wie du in einem Regionalexpress losgefahren ist, wird in einem Regionalexpress enden, sagte Jesse James. Ja, sagte ich, so ist das Leben. Ich war zwischen die Jahre und in einen Regionalexpress geraten. - Kolumnen in den Stuttgarter Nachrichten: www.stuttgarter-nachrichten.de/joebauer REKLAME: - Nächster Flaneursalon: Mittwoch, 18. Februar 2009, Theater Rampe, Filderstraße 47, Stuttgart. Letzter gemeinsamer Auftritt von Ralf Groher & Stefan Hiss als LOS GIGANTES. Weitere Gäste: Dacia Bridges & Alex Scholpp. Beginn 20 Uhr. Karten 0711 / 6 20 09 09 - 16. (In der Depesche vom 31. 12. 2008 erfahren Sie, was es mit dem schwimmenden Flaneursalon auf sich hat.) „Kontakt“ |
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