Bauers Depeschen


Freitag, 16. Januar 2009, 274. Depesche



BETR:. ALI



Zeit für eine Erinnerung. Vor drei Jahren starb Ali Taner, einer der größten und gastfreundlichsten Wirte Stuttgarts.



DIE MAGIE DER MENSCHLICHKEIT



Als die Nachricht kam, Ali sei tot, dachte ich: Das kann nicht sein, Ali ist das Leben. Er war krank, ja, das wusste man, aber wie schwer, wusste keiner.

Ali, uns seit einer Ewigkeit als aufrechter, drahtiger Mann mit kantigen Gesichtszügen vor Augen, als globaler Charakterkopf, hat selten über sich selbst gesprochen. Er hat nach den anderen gefragt, nach den Freunden, den Weggefährten.

Stuttgarts stadtbekannter Litfass-Wirt im Schwabenzentrum war ja nie nur Wirt. Er lebte die Tugend Gastfreundschaft. Keiner ging "zum Türken". Man ging "zu Ali".

Manchmal dachte man, ihn plage ständig die Sorge, irgendwem aus seinem großen Clan könnte es schlecht gehen - aber ihm selbst? Als Wirt, Barmann oder Koch diente er der Menschlichkeit. Hart gegen sich selbst, verschwiegen und vor allem großzügig. Er kam an den Tisch, öffnete eine Flasche Raki und drohte mit Lokalverbot, wenn einer zahlen wollte.

Wo Ali war, war der Süden.

Als ich ihn in den siebziger Jahren kennen lernte, hatte er gerade die Kupferschmiede am Mozartplatz übernommen (heute in der Hand des Italieners Livio). Hier wurden Freundschaften geschlossen, Beziehungen gerettet, Überlebensstrategien entworfen. Ali hatte ein offenes, internationales Haus, er war Vermittler, Berater in allen Krisen. Ohne ihn wären etliche Wohngemeinschaften verhungert oder, schlimmer, verdurstet.

Ali Taner wusste, was es heißt, nicht viel zu besitzen. 1931 wurde er in Istanbul geboren. In den Tavernen der Stadt arbeitete er als Kellner. Wenn er etwas Geld verdient hatte, ging er auf Reisen. In den Sechzigern lebte er ein halbes Jahr in Italien, eines Tages hatte er noch 60 US-Dollar und die Stuttgarter Adresse eines Türken in der Tasche. Er fuhr hin, verdingte sich zunächst als Lkw-Fahrer und danach als Gemüsehändler in der Markthalle.

Bald stieg er in der neuen Kneipenszene zu einer Größe auf. Er zog mit magischem Charme das Publikum an. Seine Gäste tourten im Tross mit ihm durch die Stadt. Mal stand er hinter der La-Concha-Bar am Wilhelmsplatz, mal am Diogenes-Grill, Olgastraße.

Als der Journalist Hans Fröhlich Anfang der Achtziger unter der Liederhalle seine Kneipe eröffnete, wurde Ali eine Institution im Nachtleben. Der Laden hatte bis morgens um fünf geöffnet, damals eine Sensation. Ali bekochte die Gäste mit türkischen Kässpätzle.

Der geschäftliche Durchbruch als Wirt gelang ihm 1985 mit der Eröffnung des Litfass im Schwabenzentrum, der Nahtstelle zwischen Altstadt und Hans-im-Glück-Brunnen. Der Laden war Tag und Nacht geöffnet, sommers kämpften Kneipenflaneure um einen Platz auf der Treppe zu seinem Biergarten.

Ali hatte ein großes Herz für Musiker, er wollte nicht glauben, dass Künstler, die etwas können, nichts verdienen. Also holte er sie selbst auf die Bühne, nicht nur unbekannte, auch gestandene Musiker wie die Rocksängerin Anne Haigis oder den Jazzbassisten Wolfgang Schmid.

Rund ums Litfass eröffnete Ali im Lauf der Zeit einige Lokale, so viele, wie er Kinder habe, sagte er mal.

Sein Sohn Hasmet leitet heute das Litfass; das Lokal ist inzwischen auf die gegenüberliegende Seite des Platzes umgezogen.

Ende der Neunziger zog sich Ali Taner zurück. In der Landhausstraße führte er noch vorübergehend das Tarabya. "Geld", hat er mir mal gesagt, "Geld kannst du nicht mit ins Paradies nehmen - auch nicht mit in die Hölle." Dann hat er eine Flasche Raki geholt und einen Teller Schafskäse.

Ali Taner ist am Sonntagmorgen, dem 23. Januar 2006, im Stuttgarter Katharinenhospital gestorben. Zwei Tage später wurde er in Marmaris, im Süden der Türkei, beerdigt. So hat er es sich gewünscht.

Um Irrtümer und Verwechslungen am Tresen zu vermeiden, haben wir ihn - in seiner Abwesenheit - immer "großer Ali" genannt. So wird es bleiben. Ihn zu vergessen hieße, einen aufregenden Teil unseres Lebens zu vergessen.



REKLAME:

- Nächster Flaneursalon: Mittwoch, 18. Februar 2009, Theater Rampe, Filderstraße 47, Stuttgart. Letzter gemeinsamer Auftritt von Ralf Groher & Stefan Hiss als LOS GIGANTES. Weitere Gäste: Dacia Bridges & Alex Scholpp. Beginn 20 Uhr. Karten 0711 / 6 20 09 09 - 16.

(In der Depesche vom 31. 12. 2008 erfahren Sie, was es mit dem schwimmenden Flaneursalon auf sich hat.)



- Kolumnen in den Stuttgarter Nachrichten:

www.stuttgarter-nachrichten.de/joebauer



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