Bauers Depeschen


Samstag, 08. Oktober 2011, 799. Depesche



OCCUPY WALL STREET -

SCHNELLE NOTIZEN AUS NEW YORK



Seltsam, wie die Dinge laufen. Anfang Oktober bin ich mit Freunden für acht Tage nach New York gereist, in der Absicht, die Stadt auch diesmal außerhalb ihres flirrigen Zentrums zu erkunden - und Manhattan nur für Besuche von Shows und Museen anzusteuern. Zum dritten Mal hintereinander wohne ich während meines Jahresausflugs in Brooklyn, wieder in dem schönen alten Marriott-Kasten in Brooklyn Heights, in der Nähe der Brooklyn Bridge.

Herrliches Wetter, blauer Himmel, der Kellner im Frühstücksraum lotst uns an einen Fensterplatz und empfiehlt (als ich ihn augenzwinkernd für die Tischwahl lobe) den "Blick auf den Ozean". In Wahrheit sitzen wir an der Adams Street, unten rauscht der Verkehr vorbei. Beim ersten längeren Spaziergang zur Einstimmung auf die Stadt am Morgen über die Brooklyn Bridge - Ziel: Ground Zero - geraten wir in unsere erste NY-Demonstration an der Wall Street. Die Protest-Gruppe scheint auf den ersten Blick eher klein, ihre Bewegung nennt sich "Occupy Wall Street" und verteilt an diesem Tag druckfrische Flugblätter. Es geht um "ein Modell gewaltloser direkter Demokratie".

Als wir am Nachmittag zur Wall Street zurückkommen, ist der bunte Haufen deutlich größer, auch die Zahl der Cops. Eine Bühne ist aufgebaut, man erwartet unter anderem den Musiker Peter Yarrow, Ex-Mitglied der legendären Folk-Band Peter, Paul & Mary. Zeitungen und Fernsehen werden über die Kundgebung und den Auftritt des Musikers berichten, und bereits am nächsten Tag zählt man 7000 Demonstranten.

Schwer zu sagen, welche Leute sich im Einzelnen engagieren. Der soziale Mix der Bewegung ist auf den ersten Blick vergleichbar mit dem Protest in anderen Ländern und erinnert - trotz unterschiedlicher Motive und Größenordnungen - auch an Stuttgart: "We are a group of autonomous individuals with no leader", steht auf dem Flyer: Wir sind eine Gruppe autonomer Individuen ohne Führer. Eine Demonstrantin hält ein Stück Pappe hoch mit der Aufschrift: "Ich bin 48 - dies ist mein erster Protest."

Zwei Tage später, nach Ausflügen in die Bronx und zum Cloisters Museum, einer aus europäischen Originalbeständen nachgebauten mittelalterlichen Klosteranlage im Fort Tryon Park an einem nördlichen Manhattan-Zipfel über dem Hudson, machen wir wieder Zwischenstopp an der Wall Street.

Auf dem Liberty Plaza, dem von der Bürgerbewegung besetzten Platz mit den ersten Spuren eines Camps, sehe ich Thomas Roth, den New-York-Korrespondenten der ARD. Er ist mit seinem Kamera-Team bei der Arbeit. Weil ich ihm noch in seiner Anfangszeit als SDR-Mitarbeiter in Stuttgart begegnet bin, ist es kein Problem, eine Weile zu reden. Noch vor ein paar Wochen, sagt er, habe er es trotz der Wall-Street-Skandale und der schlechten sozialen Lage in den USA nicht für möglich gehalten, in New York könne jemand auf die Straße gehen. Niemand habe die ersten Zeichen von Protest ernst genommen.

Die Medien haben Probleme, die neue Bewegung einzuschätzen. Sie besteht aus tradititionellen Graswurzel-Gruppen, Leuten mit ökologischem Hintergrund, Studenten, jungen Linken, Intellektuellen, Obdachlosen, Angehörigen der bürgerlichen Mitte. Man findet auf der Kundgebung unterschiedlichste Parolen, es geht um Bildung, um Gesundheitsfürsorge, um Mitsprache. Thomas Roth sagt: "Die Leute sagen: enough is enough, genug ist genug, und jetzt werden sie langsam, aber sicher ernst genommen, auch von der Presse." Auch oder vor allem der Präsident spürt den Druck: "Obama promised us change. But he changed the promise", steht auf einem Plakat: Obama versprach uns den Wechsel, die Veränderung. Aber er änderte das Versprechen. Um nicht missverstanden zu werden, distanzieren sich die "Occupy"-Leute auf ihrem Flyer ausdrücklich von der reaktionären Tea Party und deren Parolen "aus der Zeit vor der Sklavenbefreiung und der Arbeiterbewegung".

New Yorks Bürgermeister Bloomberg versucht, die Protest-Bürger als "faule Hippies" darzustellen, ihre Aktionen, sagt er, schadeten dem Tourismus und zerstörten Arbeitsplätze. Unterstützung erhalten die Besetzer des Liberty Plaza von Gewerkschaften und Intellektuellen wie der Uni-Größe Jeffrey Sachs, von Showstars wie Susan Sarandon und vereinzelt auch von superreichen Amerikanern, die die Steuerpolitik zulasten der unteren Einkommen scharf kritisieren.

Die Ziele des breit angelegten Protests sind nicht präzise bzw. nicht eindeutig definiert, es geht um soziale Gerechtigkeit, um Zukunftschancen, gegen die Willkür des Kapitals. Die Bürger verlangen Respekt von Politikern, von den Mächtigen. Was die Demonstranten eint, ist die Auflehnung gegen die Machenschaften der Finanzhaie und Börsenspekulanten. "Erfolgreiche Lehrer werden gefeuert", steht auf einem Transparent, "die Versager der Banken werden mit Boni belohnt."

Ein Student spricht uns an, er hat mitgekriegt, dass wir Deutsche sind. Paul Henri Sullivan hat eine Zeitlang in Heidelberg studiert, er liest deutsche Online-Presse - und weiß ziemlich viel über Stuttgart 21. Zurzeit arbeitet er für das Internet-Fernsehen von Occupy Wall Street, eine Art fluegel.tv. "Der Protest wird täglich größer", sagt Paul, "es kommen immer mehr Leute." Die Welle ist übergeschwappt auf andere US-Städte, Demonstrationen gibt es in Washington, Los Angeles und sogar in Houston/Texas. "Für USA-Verhältnisse eine Sensation", sagt Thomas Roth.

Seltsam, denke ich, wie man von einer Demonstration in die andere stolpert. Dabei hatte ich nur vor, die Gelassenheit von Brooklyn zu genießen, dieses schöne Stück alte, wiedererwachte Stadt, mit dem Bauernmarkt vor unserem Hotel.



SOUNDTRACK DER WOCHE



Mit der Bitte, die frohe Botschaft überall zu verkünden:

FLANEURSALON IN DER KIRCHE

Unsere letzte und größte Stuttgart-Veranstaltung in diesem Jahr steht bevor: Am Sonntag, 30. Oktober, gastieren wir auf Einladung erstmals in der Andreaskirche zu Obertürkheim. Dieses Haus – es ist durch seine Reihe „Nachtschicht“ bekannt - bietet Platz für fast 400 Besucher, und an diesem Tag sind wir in der heiligen Pflicht.

Stargast im Flaneursalon ist VINCENT KLINK, der Meisterkoch wird eigene Texte vortragen und - begleitet von seinem Klavier-Virtuosen PATRICK BEBELAAR - Basstrompete spielen. STEFAN HISS ist diesmal mit seinem Trio LOS SANTOS dabei, DACIA BRIDGES spielt ebenfalls im Trio, und unverzichtbar im Gotteshaus ist The Master of the Universe MICHAEL GAEDT.

Wir freuen uns auf die Atmosphäre und Akustik der Andreaskirche, schön wäre, eine stattliche Besuchertruppe pilgerte mit uns zum Altar. Es gibt viel zu beichten, zu sühnen und zu beten. Das Opfer an der Eintrittskasse hält sich in Grenzen.

VORVERKAUF siehe TERMINE.



DIE STN-KOLUMNEN

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