Bauers Depeschen


Donnerstag, 11. Oktober 2012, 992. Depesche

TRAUER

Der Hamburger Musiker Nils Koppruch ist mit 47 Jahren gestorben. Er schrieb und sang große Songs für Fink und zuletzt für Kid Kopphausen.



OB-WAHL

Wer Kuhn schon als sicheren Sieger sieht, vergisst

die 52,9 Prozent S-21-Befürworter bei der sogenannten Volksabstimmung.

So leicht kommt hier keiner raus: WICHTIGE WAHL-GEDANKEN



FLANEURSALON & BUCH-PREMIERE

Sonntag, 18. November, 19.30 Uhr, Theaterhaus:

mit Vincent Klink & Patrick Bebelaar

Toba Borke & Pheel

Los Santos, Dacia Bridges, Roland Baisch

Mein neues Kolumnen-Buch "Im Kessel brummt der Bürger King - Spazieren und über Zäune gehen in Stuttgart" ist in der Berliner EDITION TIAMAT erschienen und bereits im Handel. Über einen vollen Theaterhaus-Saal würden wir uns alle freuen. Karten für die Buch-Premiere über die Telefonnummer 07 11/40 20 720 und im Internet: THEATERHAUS



NOTIZ

Habe diese Woche Urlaub, schreibe so gut wie nix und verdrücke mich so lange, bis die Berliner Monsterfrau weg und die Luft halbwegs rein ist in der Stadt. Bevor ich in den Zug steige, noch ein paar Zeilen zur Erinnerung:



SOUNDTRACK DES TAGES



SO WAR DAS

Rechts von der Treppe zu den Gleisen ist die Parfümerie. Links, neben dem Thüringer Wurststand, der Snack-Kiosk mit dem kleinen Biertresen. Dahinter liegt der wichtigste Bahnsteig der Welt.

Oktober 2010. Hauptbahnhof. Gleis 14 von Stuttgart nach Ulm. Ich steige nicht in den Intercity, nehme den Regionalzug. Abfahrt 12 Uhr 32. Habe vor, die Strecke aufzusaugen, ihre Langsamkeit. Fast anderthalb Stunden wird meine Tour dauern, eine halbe Stunde länger als mit dem Intercity.

Als ich im Oberdeck des Abteils meinen kleinen Computer auf den Schoß nehme und einschalte, rauschen wir gerade über den Neckar. Die Aussicht ist gut.

Es wird viel diskutiert in diesen Tagen über die Geschwindigkeit, über die scheinbar existenzielle Wichtigkeit, den Menschen schneller von A nach B zu befördern. Angeblich ist die Lösung dieses Problems viele Milliarden Euro wert. Einem Herumfahrer wie mir kann es wurscht sein, wo er gerade ist. Mein Computer ist tausendmal schneller als jede verdammte Eisenbahn, und auch mein nächster kleiner Computer wird schneller sein als die nächste gottverdammte Eisenbahn.

Es ist ein gutes Gefühl, mit offenen Augen in Landschaften hineinzufahren, die man sonst selten beachtet. Ich sehe verschwommene Bilder, sie fliegen am Fenster vorbei. Ich blättere in der Zeitung, träume eine paar Sekunden von der Dame zwei Sitze vor mire und suche in meiner Tasche nach einem Kriminalroman. Viele Kriminalromane, vor allem diese sogenannten regionalen, wären ohne das Rollen der Räder unerträglich. Allein die Aussicht, auf den Schienen in die Welt und in eine Geschichte hineinzurattern, lässt einen umblättern.

Ich habe keinen Krimi dabei, in der Ferne sehe ich die Grabkapelle auf dem Württemberg. Der Weinberg davor sieht aus, als hätte ihn ein Künstler nach dem Vorbild der Pyramiden geformt, so wie sich der Architekt Paul Bonatz an die Architektur der Ägypter erinnerte, als er den Südflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs entwarf.

Die Bahn entführt den Passagier in die Melancholie des Oktobers, wo das Laub der Bäume das Tageslicht dimmt. Erstaunlich, wie viele leerstehende und zerfallene Gebäude an einer ländlichen Bahnstrecke auftauchen. Fabrikschlote, die nicht mehr qualmen. Auf der Fahrt durch Esslingen sehe ich die Leuchtschrift des Eiscafés Lido, es fehlt der Buchstabe O. Vieles scheint zu fehlen in den Städten und Dörfern der Gegenwart. Man wird neue Häuser und Stadtteile bauen und die alten verkommen lassen, ohne einen Plan.

Als die ersten Pioniere der Eisenbahn Schienen legten, um Profite einzufahren und Kriege zu führen, versprach man den Menschen neue blühende Städte entlang der Schienen. Heute schaut man aus dem Zugfenster auf die Schattenseiten einer Stadt, eines Dorfs, man sieht Tristesse und Verlassenheit. Heruntergekommene Lagerschuppen, kaputte Fabrikgebäude. Ruinen, Grabmale aus einer anderen Zeit.

Mein Bummelzug ist leer, es gibt zu dieser Stunde wenig Gründe, von Stuttgart Richtung Ulm zu fahren. Wir passieren Plochingen, Reichenbach, Ebersbach. Es ist 13 Uhr, seit einer halben Stunde sind wir unterwegs. Könnten die Bahnmanager ihren vorgeschobenen Plan, schneller von A nach B zu kommen, je verwirklichen, wären die Fahrgäste von Stuttgart aus so schnell in Ulm wie der Regionalexpress im Oktober 2010 in Ebersbach. Dann hätten sie keine Krimiseite gelesen, keinen Fabrikschlot gesehen und keinen Gedanken gehabt - weil damit ausgelastet, ihren Mantel des Schweigens aus- und anzuziehen. Es ist kalt in Ulm.

Der Aufstieg mit der Bahn nach Geislingen an der Steige hat etwas Rituelles, er wird mir in Erinnerung bleiben, nicht nur der weidenden Schafe wegen. Die Energie des Reisens ist zu spüren. Am erregendsten ist die Fahrt durch die Kurven, wenn ich durch mein Abteilfenster die Lokomotive sehen kann. Sie scheint nicht zu uns zu gehören.

In Ulm angekommen, suche ich ein Café. Ich setzte mich ins Bistro der Buchhandlung Hugendubel, beginne zu tippen und mache meine anachronistische Lahmarschigkeit wett. Mein Taschencomputer wirft die Buchstaben in die Luft, einer seiner Brüder stoppt sie zwischen den Wolken über Stuttgart - und schießt sie volley in die Zeitung.



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