Bauers Depeschen


Mittwoch, 05. Dezember 2012, 1020. Depesche

FLANEURSALON LIVE

Der erste Flaneursalon im neuen Jahr geht am Dienstag, 19. Februar, im SCHLESINGER über die Bühne. 20 Uhr. Erstmals mit UTA KÖBERNICK & Band, mit Dacia Bridges, Zam Helga und Roland Baisch. Karten in der Kneipe.



SOUNDTRACK DES TAGES



ERINNERUNG

Noch ist Depeschenpause - aber nur, was neuen Stoff angeht. Es gibt Erinnerungen. Den korrekten Jubiläumszeitpunkt habe ich zwar knapp verpasst, doch zum Glück ist das Jahr 2012 noch nicht um: Vor etwas mehr als einem Vierteljahrhundert wurde ich Zeuge eines der größten Tanztheater-Abenteuer aller Zeiten:  



AVRA GARBE, BAGGERFÜHRER

Gerd Garbe aus Stuttgart-Feuerbach, genannt Avra, war Baggerführer, ein verdammt guter Baggerführer. Er konnte mit seinem Bagger Kieselsteine von der Erde auflesen. Avra war The Lord of the Dance.

Es war am 3. Oktober 1987, als wir hinausfuhren nach Beilstein, südlich der Löwensteiner Berge, wo der Lemberger wächst. Am Abend war es kühl, zum Glück regnete es nicht. Sonst wäre eines der bewegendsten Ereignisse in der Geschichte der internationalen Musik ins Wasser gefallen.

Es fand statt auf der fernen Wiese eines liberalen Schäfers. Er hatte seinen Schafen an diesem Tag freigegeben, damit sie nicht ausrasteten wie später die Menschen, die er erwartete. Die Leute kamen in Scharen, sie brachten ein Zirkuszelt und Zapfhähne mit, damit sie für die Nacht von Beilstein gerüstet waren mit menschlicher Wärme und kaltem Bier.

Die Show war gründlich vorbereitet. Der Musiker Mani Neumeier, ein Erfinderkopf aus der Schweiz, der im Odenwald die Krautrock-Band Guru Guru leitete (und dies bis heute tut), hatte die Partitur auf Papier gezeichnet. Er nannte sein Werk, nach einer Idee des bluesbeseelten Stuttgarter Auto- und Motorradschraubers „Gegas“ Blessing, „Komposition für Bagger und Schlagzeug“.

Zwar hatte man sich am Ende der 80-er Jahre längst mit den synthetischen Sounds von Popgenies wie Madonna und Prince angefreundet. Aber irgendwie fehlte noch die definitive Nummer großer Maschinenkunst.

Auf dem Dach einer Hütte oder, so genau weiß ich es nicht mehr, im Geäst eines Baumes, hatte Luzifer Reffert mit seiner Gitarre Position bezogen und Mani, der Trommler, sein Schlagzeug auf der Schafwiese aufgebaut. Zur Eröffnung der Show prasselte eine Ladung Kies über die Becken – Baggerführer Avra machte Musik. Like a rolling stone.

Vor unseren Augen ging die erste Freiluftoper auf Beilsteiner Boden über die Bühne. Wir hörten die Hymnen der USA und der UdSSR, sahen wilde Verfolgungsjagden und gewagte Akrobatik, heute berühmt als Schaufel-Shuffle. Das Stück hatte auch Inhalt. Avra und sein Bagger spielten den Drachen, Mani gab den Siegfried.

Szenen einer Annäherung. Der Sowjetpräsident Michail Gorbatschow probte damals gerade Glasnost. Ihm zu Ehren hatten sich Avra Garbe und Mani Neumeier in „Vladimir Goldblatt (Moskau)“ und „Maniac Newman (New York)“ umgetauft, ihr Stück lief unter dem Motto: „Russisch-Amerikanische Freundschaft (RAF)“. Das war ein Beitrag zur Versöhnung der gespaltenen Welt, ein historischer Meilen- und Beilstein angesichts des drohenden Niedergangs des Kommunismus, den wir in der Nacht zum 4. Oktober 1987 mit politischer Verantwortung und reichlich Wodka begossen.

Zwei Jahre später sollte die Berliner Mauer fallen. Das geschah zwar ohne die Hilfe von Avras Bagger. Aber zu Ehren des Konzerts für Bagger und Schlagzeug legte man wenig später den Tag der Deutschen Einheit auf den 3. Oktober fest und rief die neue Bundesbeilsteinrepublik aus.

Das Spektakel auf der Schafweide ging, soweit ich mich erinnern kann, mit einem furiosen Tanz der Freude zu Ende. Avra rammte den Schaufelarm seines Baggers in die Erde und ließ den Rest des Monsters zu Manis Trommeln Tango tanzen. Wir feierten das Debüt der ersten Ballerina in der Familiensaga des dressierten Baggers.

Die Aufführung wurde gefilmt und später in aller Welt gezeigt.

Mani lebt heute glücklich und zufrieden im Odenwald. Er ist im Rentenalter.

Avra zog sich bei einem Motorradunfall eine Verletzung zu; die Wunde ließ er drei Jahre lang nicht behandeln. Erst während eines Urlaubs in Florida/USA wurde er ins Hospital gebracht. Blutvergiftung. Die Ärzte beschlossen, sein Bein zu amputieren. Es war zu spät. Der Baggerführer Avra Garbe starb am 3. Juli 1999 im Alter von 43 Jahren. Seine Urne wurde in Feuerbach beigesetzt.



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