Bauers Depeschen


Mittwoch, 28. März 2012, 881. Depesche



FLANEURSALON IN OSTHEIM

Der nächste Flaneursalon findet am Mittwoch, 9. Mai, im schönen historischen Wirtshaussaal der Friedenau in der ehemaligen Arbeiterkolonie Stuttgart-Ostheim statt. Es spielen Stefan Hiss, Roland Baisch, Anja Binder & Jens-Peter Abele. 20 Uhr. Karten: 07 11 / 2 62 69 24.



NOTIZ

Beginne heute wieder mit der Kolumnen-Arbeit, bis morgen ein paar Zeilen aus den Beständen:



SOUNDTRACK DES TAGES



DER SARG VON HESLACH

Heslach am Morgen ist eine schöne Sache, wenn es darum geht, einen Zipfel der Stadt zu erkunden. Und Herumgehen in Heslach ist eine Möglichkeit, nicht ahnungslos zu sterben. Am Bihlplatz, Ecke Böblinger Straße/Benckendorffstraße, steige ich aus der Straßenbahn. Wie immer parkt der Grill-Hähnchen-Express vor der Kreuzkirche. Auch tote Hühner hoffen auf den Himmel. An der Ecke ist der Blumenladen Veilchen, der spirituelle Geschäftspartner des Bestattungsdienstes „Die weiße Lilie“. Im Schaufenster der Lilie steht ein offener weißer Sarg, mit Wasser gefüllt, mit sprudelndem Springbrunnen und weißen Lilien dekoriert. Dieses lustige Ensemble sieht aus, als könnte nach dem Tod alles weitergehen, auf einer Party im Feuchtgebiet Heslach.

Ich hätte nichts dagegen, in Heslach den Löffel abzugeben, sähe Heslach dann noch aus, wie es heute aussieht in den Vierteln, wo Menschen mit Fantasie und Lebenslust wohnen. Vor meinem Abgang würde ich eine gewaltige Shopping-Tour starten, um auf dem Friedhof an der Benckendorffstraße nicht mit leeren Händen dazuliegen. Es gibt wenige Dinge auf der Welt, die es nicht in Heslach zu kaufen gibt. Beim Hut-Vogel in der Böblinger Straße hole ich mir eine Schildmütze. Wer vor dem Heslacher Veilchen steht, muss eine Mütze vom Hut-Vogel haben. Was sonst sollte man vor einem Sarg mit Springbrunnen ziehen?

Die Böblinger Straße ist ein langes Stück Stuttgarter Süden, eine asphaltierte Endloswurst voller Wunder. Müsste ich nicht meinen kleinen Computer Fink und mein gummiertes Fernglas von Nikon mit mir herumschleppen, wäre ich längst beim Elektro-Schwerdtner in der Nähe des Marienplatzes eingekehrt. Dieser Laden bietet alles, was ein Mann am Morgen braucht. Espresso-Kanne, Zahnbürste, sechs Meter breite Flachbildschirme. Und bevor ich für immer in der Wasserkiste absaufe, werde ich mir Schwerdtners tragbaren Plattenspieler mit Radio und USB-Stick für 99 Euro kaufen. Der Türsteher wird staunen, wenn ich oben an die Pforte klopfe: "Grüß Gott, Petrus, leg ,Highway To Hell' auf. Die toten Hühner von Heslach wollen tanzen."

Es gibt schöne alte Häuser in Heslach. Der Spaziergänger erfreut sich an Backstein, oder gar Fachwerk wie in der Taubenstraße. In Heslach haben Wirtshäuser mit alten Namen geöffnet, und bis auf den heutigen Tag hat sich keiner getraut, die Kneipenschilder zu schänden, sie mit einem pornografisch zu versauen. Der Fiaker heißt bis heute Fiaker und die Alte Hupe immer noch Alte Hupe.

Leider kann der Spaziergänger nicht in die Häuser hineinhorchen. Manche Häuser in Heslach sehen aus, als hätten sie viel zu erzählen. Vielleicht ist es auch besser, man fragt sie nicht und ist zufrieden, weil es sie noch gibt.

Ich weiß, dass sich in Heslach Vampire herumtreiben, und ich meine nicht nur die Blutsauger aus der Immobilien-Branche. Ja, Paolos schönes altes Ristorante haben sie weggemacht und stattdessen einen hässlichen Allerweltsbau hingestellt. Aber überall in Heslach gibt es Zeichen vom Leben nach dem Tod. Nicht weit vom Bäcker namens Metzger, gleich neben dem Metzger Aicheler, kommt man an den weithin berühmten Schaufenstern vorbei, die sich schon erstaunlich lange halten. Links die revolutionäre Erkenntnis des Bestattungsunternehmens Weiße Lilie: "Auch der Tod gehört zum Leben." Rechts daneben die hoffnungsfrohe Werbung einer kleinen Stadtteilzeitung: "Lebendiger Süden". Ich würde die Botschaften mit gutem Gewissen zusammenfassen: "Im Süden ist der Tod lebendig." Und im Sommer treibt er es mit uns im Wasserbett.

Diese Dinge lernt man beim Spazierengehen, dieser altmodischsten Form des Fortschritts. Irgendwann muss ich innehalten, um über mein Vorwärtskommen in unserer fortschrittlichen Stadt zu berichten. Als ich diese Zeilen tippe, sitze ich, Heslach südlich hinter mir, unter einem Sonnenschirm an der Hauptstätter Straße. Westwärts scheint ein Orkan zu toben. Martinshörner sind zu hören. Hinter mir rattert der Pressluftbohrer vor einem eingerüsteten Haus. Neben mir schnattern, den Strohhalm ihrer Latte zwischen den Lippen, drei aufgeheizte Kaffeehaus-Damen mit Stöpseln in den Ohren. Wie erregend wäre es jetzt, in einem Sarg voll Champagner zu liegen und davonzuschwimmen. Doch so leicht kommt hier keiner raus, aus dem Höllenlärm der Stadtautobahn.



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