Bauers DepeschenMontag, 22. Dezember 2008, 265. DepescheNULLNULL VOR MITTERNACHT Ich bemühe mich, die Mitternachtsdepesche von Sonntag auf Montag pünktlich vor Mitternacht zu beenden. Viel Zeit bleibt nicht. Eigentlich ist es ein großer Unsinn, gegen die Zeit anzuschreiben, als spiele man um Geld. Und die gut gekühlten Gedanken des Tages wären besser als die abendandächtigen Flausen. Am Freitag habe ich bei meinem Spezialbuchmacher noch schnell einen Weihnachtszehner auf die Kickers gesetzt. Die Quote war lausig - und das Nullzunull gegen Wacker Burghausen bei großer Kälte auf dem Fußballplatz eines dieser Erlebnisse, welche die ganze Existenz in Frage stellen. Es ist psychologisch absolut richtig, einen Zehner vor solchen Spielen zu setzen. Hinterher könnte man sich trösten, man habe lediglich einen Zehner verloren und nicht seinen Glauben und alles andere. Es gibt fast keinen Grund mehr, Boxkämpfe im Schwergewicht anzuschauen. Selbstverständlich gab es die Hoffnung, der Amerikaner Evander Holyfield könnte dem Russen Nikolai Walujew einen Leberhaken verpassen oder ein bleibendes Zeichen hinterlassen. Der Riese stand im Ring wie King Kong, als der auf dem Empire State Building mit den Händen nach den angreifenden Flugzeugen schlug. Der alte Mann Holyfield konnte den Turm nicht stürzen, auch wenn er noch tanzte und boxte wie ein Boxer. Diese Kämpfe haben keine Würde. Freakzirkus. Langsam stirbt die Hoffnung, es könnte je wieder einen guten Schwergewichtsboxer geben. Die Jungs, die heute so gut werden könnten wie Holyfield, wollen nicht mehr Boxer werden wie Holyfield. Sie wollen Politiker werden wie Obama. Der Präsident sollte ihnen sagen, dass Präsident immer nur einer werden kann. Boxweltmeister können im heutigen Verbändechaos mehrere gleichzeitig werden. Doch das ist der Tod des Schwergewichtsboxens, und ein guter Junge sollte vielleicht lieber Präsident werden. Am Sonntagmorgen bin ich mit meinem Schrittmacher, dem serbischen Partisanen, durch den Wald gelaufen. Es gibt auf unserer Strecke nicht sehr viele Läufer, immer aber viele Frauen mit vielen Hunden. Manche der Hunde-Frauen glaube ich schon von weitem zu erkennen. Es gibt eine Regelmäßigkeit sonntagmorgens im Wald. Immer zur gleichen Uhrzeit kommt uns ein Mann mit sehr professioneller Läuferkleidung und Sonnenbrille entgegen. Wegen seiner Jackenfarbe habe ich ihn „Gelber Blitz“ getauft. Er grüßt immer freundlich. Manche Leute grüßen im Wald, manche nicht. Die, die nicht grüßen, versuche ich einzuordnen. Ich glaube zu erkennen, wenn einer einen Mord begangen hat und deshalb allein und im Schritttempo in Turnschuhen durch den Wald geht, ohne zu grüßen. Der hat keinen Mord begangen, sagt der Partisane, er hat sich nur von seiner Frau getrennt. Vor Weihnachten und über Weihnachten passiere das häufig. Die Leuten, sagt der Partisane, würden mit dem nachlassenden Stress nicht fertig. Ich sage: Wenn der Mann mit den Turnschuhen und dem Schritttempo keinen Mord begangen und sich von seiner Frau getrennt hat, dann sucht er jetzt nach einem Baum, um sich aufzuhängen. Genau so sieht er nämlich aus. Ich kann das beurteilen, ich habe das Nullzunull geben Burghausen in der Kälte erlebt. Am Sonntagabend saß ich in der Bar im Stuttgarter Westen. Neben mir an der Theke saß zufällig ein Junge, der aus Sigmaringen kam. Frisch zugezogen. Er sagte mir nach jedem Lied, die Sängerin sei gut, aber das Mikrofon zu leise. Ja, sagte ich, die Sängerin ist gut, aber die Leute in dieser Bar haben keinen Respekt, sie quatschen zu viel. Jeder Liedtext passe genau auf ihn, als sei er für ihn maßgeschneidert, sagte der Junge. Deshalb gebe es Laffsongs, speziell für ihn. Ich dürfe ihn nicht so ernst nehmen, sagte er, er wolle nur ein wenig provozieren, um sich selbst aufzuheitern. Er habe sich heute von seiner Freundin getrennt. Beziehungsweise (genau: beziehungsweise) seine Freundin von ihm. Eine große Katastrophe. Nein, sagte ich, vor Weihnachten sind Trennungen keine Katastrophe, vor Weihnachten sind Trennungen absolut normal. Er könne jederzeit den Partisanen fragen. Der Partisane wisse, wovon ich rede. Der Junge bestellte noch ein Bier, und ich ging nach Hause, auch weil mich mein neuer rechter Stiefel drückte. Ich habe diese Depesche noch vor Mitternacht in den Stiefeln geschafft, und als ich fertig war, wusste ich nicht, auf wen ich nächsten Samstag setzen soll. Vielleicht werde ich einen Zehner auf die nächste Trennung oder einen Mord setzen. In diesem Geschäft gibt es keine Winterpause. Mal sehen, welche Frauen nach Weihnachten allein durch den Wald gehen. Beziehungsweise - mit wie vielen nagelneuen Hunden. - Kolumnen in den Stuttgarter Nachrichten: www.stuttgarter-nachrichten.de/joebauer - Samstag, 27. Dezember 2008, Theaterhaus Stuttgart: Der Entertainer Roland Baisch präsentiert die Weihnachtsshow "Solo XXL" mit seinen Countryboys, dem Komiker Otto Kuhnle, den Pubertätspunkrockern 25% Too Young To Shave und dem Vorleser Joe Bauer. Beginn: 20.30 Uhr. Karten: 07 11 / 4 02 07 20 „Kontakt“ |
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