Bauers DepeschenMontag, 12. August 2019, 2122. DepescheHört die Signale! DAS LIED ZUM TAG EIN MUSIKER UND SCHRIFTSTELLER Diesen Text habe ich für private Zwecke aufgeschrieben. Es kann ja nicht falsch sein, so etwas aus Lust und Laune zu tun. Diese Geschichte hätte ich übrigens nicht erlebt, hätte ich meine Neugier im Fall Willy Vlautin frühzeitig mit Google befriedigt: ALLES WEGEN WILLY Es war mir peinlich, im Zigarrengeschäft Wolsdorff eine Plastikschachtel Schnupftabak mit Aprikosennote zu kaufen und nach Kautabak zu fragen, nur weil ich wissen wollte, ob es Kautabak überhaupt noch gibt. Klar gebe es noch Kautabak, sagte die Verkäuferin, seit einem halben Jahr sogar wieder ziemlich viel, denn immer mehr junge Leute kauften Kautabak. Anscheinend hat sich der Rauch, der verboten wurde und sich verzogen hat, in einen Priem verwandelt. Grund für meinen Besuch im Zigarrenladen war nicht etwa eine wiederaufflammende Sucht nach Nikotin, die ich vor mehr als einem Dutzend Jahren besiegt hatte. Vielmehr hatte mich meine Begegnung mit einem Schriftsteller, Sänger und Musiker aus Nevada dazu angeregt. Erstmals hatte ich Wochen zuvor von ihm in einer Arte-Dokumentation mit dem Titel „Stars gegen Trump“ gehört, noch ohne zu begreifen, was mir bis dahin entgangen war. Der Schriftsteller und Musiker wurde in diesem Film als Zeitzeuge zum US-Präsidenten befragt und machte einen sehr sympathischen Eindruck, während im Hintergrund einige Takte seiner Country-Songs liefen. Diese Musik gefiel mir, rasch notierte ich den Namen ihres Schöpfers auf einem Notizzettel. Irgendwann aber warf ich den Zettel versehentlich weg und vergaß den Mann, bis ich nach Wochen beim Zappen wieder im selben Dokumentarfilm landete und ihn noch einmal anschaute. Die Wiederholung war nicht langweilig. Trump regierte noch immer, und immer schlimmer. Diesmal steckte ich den Zettel mit dem Namen des singenden Trump-Gegners aus Nevada in meine Hosentasche und bat schon anderntags meinen Plattenhändler, mir eine Scheibe von Willy Vlautin zu besorgen. Der Plattenhändler fand unter diesem Namen in seinem Computer nur ein einziges Album, „Northline“. Einige Tage später legte ich die LP auf und hörte durchaus bewegende Folk- und Countrystücke, seltsamerweise alle instrumental. Im Innern der Hülle stieß ich dann auf Willy Vlautins Zeilen, wonach er diese Musik während seiner Arbeit an seinem Roman „Northline“ geschrieben habe und hoffe, dass sie die Stimmung des Buchs spiegle. Um dies zu beurteilen, musste der Roman her. Bei meiner Buchhändlerin erfuhr ich, dass „Northline“ vergriffen war. Damit konnte die Geschichte aber nicht beendet sein. Ich bestellte mir Willy Vlautins vorrätigen Romane „Motel Life“ und „Ein Feiner Typ“. Und aus sportlichen Gründen verzichtete ich weiterhin, in Sachen Willy Vlautin online zu ermitteln. Scheiß auf Google. Stattdessen ließ ich mir von einem seriösen Internetvertrieb für ein paar Euro „Northline“ schicken. Der Klappentext des Buchs klärte mich auf: Willy Vlautin sei Sänger und Songschreiber der Folkrockband Richmond Fontaine und habe mit seinem Romandebüt „Motel Life“ einen internationalen Erfolg gefeiert. Die ganze Welt, und für nichts anders hält sich die Literaturkritik, schien Willy Vlautin zu kennen. Nur ich nicht. Wieder ging ich zum Plattenhändler, diesmal mit dem Wunsch, mir aufs Geradewohl zwei Alben von Richmond Fontaine zu ordern. Als ich Tage später zuerst die LP „Don’t Skip Out On Me“ auflegte, staunte ich nicht schlecht: Auch diesmal waren ausschließlich Instrumentalstücke zu hören. Willy, sagte ich, du scheinst ein komischer Sänger zu sein. Einer, der keinen Laut von sich gibt. Erst bei näherem Hinsehen zeigte sich mir Willy weniger nachlässig als ich, denn auch diesmal hatte er, auf der Rückseite des Covers, ausdrücklich auf den Soundtrack zu seinem gleichnamigen Roman hingewiesen. Okay, Willy, sagte ich, schone meinetwegen deine Stimme, zum Glück habe ich ja eine weitere Scheibe, nämlich die mit dem unschlagbaren Titel „You Can’t Go Back If There’s Nothing To Go Back To“. Auf diesem Album ist auf jeder Nummer ein Sänger zu hören, und dessen berührend angeraute Stimme gehört eindeutig Willy Vlautin. Das Geheimnis seiner musikalischen Mehrfachbelastung schien also geklärt, viele Amerikaner müssen mehrere Jobs machen, um zu überleben, und so nahm ich mir in Ruhe seinen bei uns 2018 erschienenen Roman „Ein feiner Typ“ vor. Diese Geschichte von einem alternden Farmer und einem jungen Mann, der in die Stadt geht, um Profiboxer zu werden, las ich mit zunehmender Begeisterung. Das war eines der Bücher, von denen man nie genug haben kann. Es geht um Freundschaft und ums Verlieren, um den Abschied vom amerikanischen Traum und den Rest einer Hoffnung auf Amerika. Willy Vlautins Art zu schreiben traf mich in der Seele. Warum hatte ich nie von diesem Autor gehört? Einige seiner Figuren schien ich aus Kaschemmen zu kennen, in denen ich früher kettengeraucht hatte, und die Straßen der Stadt, in denen sie sich bewegten, konnte ich beim Lesen riechen. Sie rochen nach Dosenbier, nach K.o.-Schlägen und der Sehnsucht, noch einmal aufzustehen. Es ist seit Georges Simenon kein Geheimnis, dass ganze Romane aus dem Geheimnis von Gerüchen entstehen. Erst als ich "Ein feiner Typ" ausgelesen hatte, stellte ich fest, dass es im Original „Don‘t skip out on me“ heiß. Der Soundtrack zum Roman stand also aus purem Zufall bereits in meinem Regal. Ich legte die Scheibe auf und erlebte etwas mir bis dahin Unbekanntes: Die amerikanische Erzählkunst des Romans lieferte scharfe Fantasiebilder für das Kopfkino, während die Musik zu diesem Film aus den Boxen in meinem Zimmer drang. Der Sound der Platte vermischte sich mit dem Sound der Buchs, und ich muss nicht sagen, dass die Rhythmen so sehr übereinstimmten, dass sie den Takt meines Herzschlags steuerten. Der vollendete Swing. Erst nach dieser Erfahrung fiel mein Blick auf den Klappentext des Buchs. Und jetzt zweifelte ich an meinem Verstand. Da steht: „Willy Vlautin, geboren 1967 in Reno, Nevada, ist Sänger und Songschreiber des Folkrockband The Delines.“ Jetzt pass mal gut auf, Willy fuckin‘ Vlautin, sagte ich, ich lasse mich von dir nicht länger verarschen. Seit einigen Jahren habe ich eine Platte exakt dieser The Delines im Regal, eine LP mit dem Titel „Colfax“ voller betörender Country-Songs, die ich mir wieder und wieder mit einem Verlangen nach einer Dosis Wehmut und Freude reinziehe. Auf dieser Platte aber singt kein Mr. Willy Vlautin, sondern Mrs. Amy Boone. Und Amy Boone ist, selbst unter Berücksichtigung aller offenen Grenzen der Gender-Debatte, eine Frau mit entsprechender Stimme. Ich zog „Colfax“ aus dem Regal, und wieder stieß ich erst im Innern der Hülle auf die Wahrheit: Alle Songs des Albums stammen von Willy Vlautin (dem neben „Guitars“ auch „Vocals“ zugeordnet werden; anscheinend hat er etwas Hintergrundgesang beigesteuert). Kaum erwähnenswert, dass ich mir postwendend ein neues Album der Delines zulegte: „Scenic Sessions“, mit Amy Boone als Leadsängerin und Willy Vlautin als Songwriter, Gitarrist und Sänger. Okay, Willy, sagte ich, ich kann dich nicht für meine Verwirrung verantwortlich machen. Du bist von Beruf Songschreiber, Musiker und Romanautor und nicht Klappentexter deines Verlags. Im Grunde war ich sogar froh über das Hin und Her zwischen Platten und Büchern, wurde ich doch nach und nach von einer geradezu forscherhaften Erregung über meine Entdeckungen erfasst – voller Genugtuung, die Google-Suchmaschine gemieden und deshalb musikalische und literarische Überraschungen erlebt zu haben, wie sie die digitalen Schnellschüsse aus meinem Taschentelefon verhindert hätten. Ich hatte Willy Vlautin im Unterbewusstsein gesucht und ihn in einem Papier- und Vinyl-Labyrinth gefunden. Bald begann ich, den Roman „Motel Life“ zu lesen, der, wie mich zuvor schon der Klappentext von „Ein feiner Typ“ aufgeklärt hatte, mit Emile Hirsch, Dakota Fanning und Stephen Dorff verfilmt worden war. „Motel Life“ ist die schmerzend schöne Loser-Geschichte zweier Brüder, die im Jahr, als Evander Holyfield den haushohen Favoriten Mike Tyson in Nevada durch Technischen K. o. besiegt, nur selten etwas gewinnen. Einmal beklagt einer der Brüder, keinen Krümel Copenhagen mehr zu haben. Copenhagen, sein Lieblingskautabak, beruhige die Nerven. Und dann unterhalten sie sich über den Western „Der Texaner“, einen großartigen Film voller skurriler Menschen, in dem Clint Eastwood eine Menge kaut, aber vielleicht nicht wie im richtigen Leben, wo man sich die Zähne damit versaut: „Filmstars, die machen so einen Scheiß nicht. Die nehmen Privatstunden, da bringt ihnen dann einer bei, wie man kaut . . .“ Ich habe dann – doch noch mithilfe von Google – ermittelt, dass es anno 1996 war, als die Brüder ihre Kohle auf Holyfield setzten. Und dass es bis heute in den USA Copenhagen gibt. Da ich Kautabakkauen aber für eine Sauerei halte, weil wir heute kaum noch über Spucknäpfe verfügen und ich das Zeug nicht schlucken will, habe ich bei Wolsdorff nach Schnupftabak gefragt. Die Auswahl war klein, schließlich habe ich mich für diese ziemlich günstige Aprikosennote im Plastikbehälter entschieden und mir wenig später bei einer Tasse Kaffee eine Prise in mein rechtes Nasenloch gezogen. Es prickelte, und obwohl ich niesen und mir die Nase putzen musste, kam ich mir vor wie ein Rockstar, der Romane schreibt. Auf der Schachtel steht, Schnupftabak schädige die Gesundheit und mache süchtig, aber das hielt mich nicht davon ab, mir per Taschentelefon eine ausgesprochen schöne Dose Schnupftabak von Copenhagen in den USA zu bestellen. Ich habe nicht vor, der Schnupfsucht zu verfallen. Bei meinen Ermittlungen muss ich mich weiterhin auf meinen Riecher verlassen können. Falls ich aber morgen Songs von Willy Vlautin auflege und dazu in einem seiner Bücher lese, kann es sein, dass ich mir ein erbsengroßes Häufchen von diesem verdammten Copenhagen gönne. Das beruhigt die Nerven, wenn Willy Vlautins hoffnungsvolle Helden nicht mehr aus ihrem amerikanischen Albtraum erwachen. |
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