Bauers DepeschenFreitag, 02. August 2019, 2116. DepescheHört die Signale! DAS LIED ZUM TAG Am Mittwoch, 7. August, machen wir in der Stadtbücherei Weilimdorf einen Mini-Flaneursalon: Unsereiner liest, Eva Leticia Padilla singt, begleitet von ihrem Gitarristen Stefan Brixel. Begin 20 Uhr. Aus diesem Anlass habe ich mich im Ort umgeschaut: StN-Kolumne: BEIM ESEL Wieder der Nase nach, ohne Vorbereitung, ohne Erwartung und Ziel. Am Löwenmarkt in Weilimdorf steige ich aus der Straßenbahn, Linie 6. Von Weilimdorf ist mir kaum mehr bekannt, als dass ich an diesem nordwestlichen Außenposten mit meiner Begleiterin nicht allein sein werde. Mehr als 30 000 Menschen leben in diesem Stadtbezirk. Davon sollten auch sonntags ein paar zu sehen sein. Der Löwenmarkt wirkt am Sonntag nicht unbedingt wie ein Rummelplatz. Die aneinandergereihten Geschäfte und wenigen Lokale an den Rändern des Platzes ergänzen sich zu einem leblosen Sammelsurium, das man Einkaufszentrum nennt. Am unteren Ende des Platzes das Bezirksrathaus mit der Stadtbücherei. In einem Turm, an ein Stahlbaugerüst erinnernd, steckt ein Quader mit der Abbildung einer Weizenbierflasche von Hofbräu. Das Werbebild mit der Pulle, Teil der Skulptur, thront über dem Löwenmarkt wie eine Ikone. Ein armer Schlucker könnte auf die Idee kommen, vor dieser Art Altar unterm Himmel um Nachschub zu beten. Wir verlassen den Marktplatz, gehen ziellos herum, bis ich vor dem Alten Pfarrhaus stehe, der heutigen „Heimat Stube“. Das Haus neben der Oswaldkirche wurde 1559 erbaut; da war Luther erst 13 Jahre tot. Vor dem Baugerüst gegenüber sehe ich ein kleines schwarzes Schild mit weißer Schrift: Hinweis auf den Gertrud- und Otto-Mörike-Weg durch den Pfarrgarten mit seinen alten Mauern. Mit meinem Taschentelefon kann ich etwas über die Geschichte solch unscheinbarer Zeichen an Ort und Stelle erfahren. Die historische Umgebung und die Spuren der Menschen vor Augen, bewegt mich die Lektüre stärker als zu Hause am Schreibtisch. Auch im Digitalzeitalter gibt es das Kopfkino. Der schwäbische Pfarrer Otto Mörike (1897 bis 1978) leistete mit seiner Frau Gertrud (1904 bis 1982) Widerstand gegen die Nazis. Er arbeitete in Kirchheim unter Teck, erhielt Redeverbot und wurde wegen seiner öffentlichen Bekenntnisse gegen die Faschisten schwer misshandelt. Nachdem er 1939 die Pfarrgemeinden Weissach und Flacht im Kreis Leonberg übernommen hatte, versteckte das Ehepaar Mörike im Pfarrhaus und an anderen Orten verfolgte Juden. Ein paar Kolumnenzeilen darüber können nicht vermitteln, wie mutig diese beiden Menschen in ihrem lebensgefährlichen Kampf gegen die Nazis gewesen sein müssen. Sie überlebten den Terror. Nach dem Krieg kam der Pfarrer Otto Mörike nach Weilimdorf. 1975 wurden er und seine Frau Gertud vom israelischen Staat mit dem Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ geehrt. Es gehört zum Wesen des Spazierengehens, auf Zeichen einer Vergangenheit zu stoßen, die irgendwann in die Gegenwart führen. Etwa wenn ich noch Ende Juli in Weilimdorfs amtlichem Schaukasten einen Aushang der Rechtsnationalisten lese, der den hetzerischen Unsinn von einer „Vereinigung von Gewerkschaften, SPD und Grünen mit linksextremistischen Gewalttätern“ bei der Stuttgarter Kundgebung zum 1. Mai verbreitet. Ich folge weiter meinem Reiseführer namens Zufall und lande vor einem Straßenschild mit der Aufschrift „Beim Esel“. Diesmal lassen sich die Hintergründe der Adresse nicht per Internet ermitteln. Kurz darauf stehe ich vor der Lindenbachhalle, die mich dank meines außergewöhnlichen Scharfsinns ahnen lässt, dass es in Weilimdorf ein Gewässer namens Lindenbach geben muss. Mithilfe auskunftsfreudiger, einheimischer Spaziergänger-Kollegen finde ich die nicht verdolten Reste des Bachs – und kurz vor der Grenze zu Feuerbach einen herzerfrischenden Tümpel im Grünen. Es ist der Lindenbachsee, auch „Entensee“ genannt. Ein stoischer Fischreiher auf einem Ast über dem Wasser begrüßt mich mit erhabenem Schweigen und reagiert auch dann noch mit imponierender Coolness, als ich wie ein Dorftourist mit meinem Telefon herumknipse, während meine Begleiterin diskret die schöneren Bilder mit ihrer Kamera macht. Ich muss zugeben, auch nach vielen Jahren des Herumstiefelns spüre ich immer eine leicht fiebrige Freude, wenn ich an einem Ort der Stadt lande, von dem ich nie gehört habe. Dies gilt besonders im Fall von Wasser (nicht zu verwechseln mit einem Wasserfall, den es bekanntlich im weit entfernten Heslach gibt). In wenigen Stunden erlebe ich auf meiner Sonntagstour ein anderes Weilimdorf als jenes, das für sein großes Industriegebiet mit Firmen wir Porsche und Siemens bekannt ist. Nach der Rückkehr von meiner Sonntagstour zwingt mich meine Neugier, doch noch rasch die Straße namens Beim Esel zu erkunden. Dabei hilft mir Herr Bernhard Klar vom Weilimdorfer Heimatkreis. Während das Standart-Buch „Die Stuttgarter Straßennamen“ die 1978 so benannte Adresse „der schon im 18. Jahrhundert bekannten volkstümlichen Beschimpfung“ zuschreibt, haben Weilimdorfer Chronisten liebenswertere Erklärungen. Zwar gab es schon früher eine Gegend, die „Im Esel“ hieß, und sogar eine Sänger-Hocketse, die man, womöglich mit einem Hang zum chorischen Wiehern, „Fest im Esel“ getauft hatte. Denkbar ist aber auch, dass aufgrund der schwäbischen Maulfaulheit der „Esel“ von der „Nessel“ (wie Brennnessel) herrührt. Es gibt noch andere, mit dem schwäbischen Zungenschlag begründete Deutungen. Nun aber schweige ich aus Respekt vor Weilimdorf, ehe ich mich als naseweiser Esel in die Nesseln setze. |
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