Bauers DepeschenSamstag, 06. April 2019, 2079. DepescheDEMO GEGEN MIETENWAHNSINN UND WOHNUNGSNOT: An diesem Samstag, 14 Uhr, Stuttgarter Schlossplatz. Hört die Signale! DAS LIED ZUM TAG Neue StN-Kolumne: SCHLEIMSPUREN In letzter Zeit, die genau genommen nicht meine letzte war, habe ich nur selten Krimis gelesen. Womöglich hat mir mein fortschreitendes Alter die Lust auf Morde und ähnliche vorzeitige Tode genommen. Neulich habe ich mir auf Empfehlung dann doch einen Kriminalroman angetan, „Dunkle Schuld“ von James Sallis. Dieses großartige Buch handelt von einem Ex-Bullen mit Knastvergangenheit. An einer Stelle geht es darum, wie ein Mensch aus dem Gefängnis kommt: „Die Welt ist ein furchteinflößender Ort, wenn man das erste Mal wieder zu ihr zurückkommt. So viel Bewegung, so viel Lärm, alles bellt einen an und schnappt nach einem, völlig außer Kontrolle. Einfach nur über die Runden zu kommen, zurechtzukommen, eine Straße zu überqueren, spazieren zu gehen, sich einen Film anzuschauen, das erfordert Dutzende und Dutzende Entscheidungen, und die Welt hält nicht einfach still …“ Diese Sätze wandern mir inzwischen beim Spazierengehen im Kopf herum. Nicht, dass ich Knasterfahrung habe. Mir fällt jetzt nur öfter diese lärmende, bellende, schnappende Welt auf, die ich nicht mehr wahrgenommen hatte. Wenn ich im Charlottenplatz-Untergrund auf die Straßenbahn warte, flirren vor mir Bilder und Buchstaben, Schlagzeilen über eine junge Aktivistin namens Greta und einen abgehalfterten Fußballfunktionär namens Grindel. Neben mir ein Werbeplakat mit Kinofilmen, die ich verpassen werde, und vor mir auf der Straßenbahn scheußliche Möbelreklame. Am Kiosk hinter mir trinkt einer ein Kräuterlikörchen, der vielleicht erst gestern erlebt hat, dass die Welt ein furcht- und schnapseinflößender Ort ist, wenn du das erste Mal wieder zu ihr zurückkommst. Und irgendwo im Dunkeln bellt der Hund eines Obdachlosen, weil Hunde nicht nur am Ende der Groschenromane am Kiosk bellen. Das alles klingt dramatisch, andererseits kann ich nicht diesen Roman von James Sallis lesen und hinterher so tun, als sei die Welt kein schnappender Kampfhund. Als mein eigener Therapeut glaube ich, dass bei meinem neuen Blick auf die Dinge mein Eintritt in die Welt sogenannter Senioren eine Rolle spielt. Senioren nennt man heute Menschen, die nicht mehr wie früher ins Altersheim, sondern in die Seniorenresidenz entsorgt werden. Diese neue Begrifflichkeit entspricht in etwa der Marketingidee, die Hölle nicht mehr fuckin‘ hell, sondern Wellnesshotel zu nennen. Zum Glück fühle ich mich in meinem jetzigen Zustand noch so weit vom Inferno entfernt, dass ich Philip Roths berühmtes Zitat aus seinem Roman „Jedermann“ nicht zwingend auf mich beziehe: „Das Alter ist kein Kampf; das Alter ist ein Massaker.“ Dennoch erzeugt mein Dasein als Rentner und Ruheständler, wie man Senioren definiert, ein Lebensgefühl, das den Begriff „Leben“ bedrohlich relativiert. Seit man bemerkt hat, dass heute die Leute, die nicht früh sterben, immer älter werden, ist Senior nicht nur eine Beschönigungsfloskel für den alten Sack, sondern vor allem das Stichwort für profitable Geschäfte. Der Alte gilt heute auf dem Markt vorgezogener Leichenfledderei als „Best Ager“. Als ein in die Jahre gekommener Beinahe-Hirntoter, der als Kunde auf Teufel komm raus geschröpft werden kann, sofern ihn der Sozialstaat noch nicht in die Schwäbische Tafel meiner Nachbarschaft getrieben hat. Unsereiner zum Beispiel fettet sein Gesicht tagtäglich mit Creme aus Schneckenschleim, die in den Regalen für Dahinsiechende als „Antiage“-Heilmittel feilgeboten wird. Ob mir diese salbungsvolle Bio-Geschichte jemand glaubt, ist unerheblich, da mir der Gedanke an die Geschwindigkeitsbegrenztheit der Schleimschnecken die Ankunft von Gevatter Hein deutlich hinauszögert. Damit mir aber nicht zu wohl wird, lehnt unser anscheinend schon bei Geburt geriatrisch falsch behandelter Bundesverkehrsminister ein Tempolimit auf unseren Straßen ab. Um den alternden Menschen maximal auszubeuten, hat man vor langer Zeit den „rüstigen Rentner“ erfunden, ohne die geringste Rücksicht, wie viel Rente ein Rentner bräuchte, um sich halbwegs für ein menschenwürdiges Dasein zwischen Mietenwahnsinn und Inflation rüsten zu können. Das Stabreim-Prädikat „rüstiger Rentner“ gaukelt uns Gebrechlichen einen Golf spielenden, surfenden und bergsteigenden Supermann vor und erinnert mich an ein altes Spottlied: „Erwin tanzt auf einem Bein / Rock 'n' Roll im Altersheim.“ Man möge entschuldigen, dass ich bis hierher nur den maskulinen Teil des Alterns berücksichtigt habe. Als altem, weißen Mann fehlt mir angesichts der furchteinflößenden Welt zurzeit noch der Zugang in die femininen Tiefen der Seniorinnenwelt. Ich arbeite daran. Tatsache aber ist, dass mich die Seniorenresidenz im Moment weniger an Tina Turner als an Winfried Kretschmann erinnert – an diesen Grünen, den aus Ehrfurcht vor der Obrigkeit vermutlich immer noch niemand nach seinem Rentnerausweis fragt. Wohl deshalb mischt er sich in die Angelegenheiten unserer hoffnungsvollsten Schülerinnen und Schüler ein. Für ein besseres Klima zu streiken, hat er sie belehrt, könne keine „Dauerveranstaltung“ werden. Und da frage ich mich: Wie, bitte, soll ausgerechnet ein fast 71-jähriger Gewohnheitspolitiker ein glaubwürdiges Verhältnis zur Dimension der „Dauer“ haben? Streikt weiter, Juniorinnen und Junioren, solange euch Politiker anbellen, die im Kampf gegen den letzten Schnapper dieser Welt nur Schneckenschleimspuren hinterlassen. In Ewigkeit. Amen. |
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