Bauers Depeschen


Mittwoch, 15. Mai 2019, 2088. Depesche



 



Hört die Signale!

DAS LIED ZUM TAG



Europa ist irgendwo ...

Zur Erinnerung vor der Wahl: StN-Kolumne vom 25. Juli 2018

FAHRSTUHL NACH EUROPA

Es ist gefährlich heiß an diesem Julitag, als ich mich wieder mal auf die Suche nach Europa mache. Zwei Jahre ist es her, dass ich eine ähnliche Expedition unternommen habe. 2016 erregte sich gerade die halbe Welt über den Brexit. Damals hatte noch kein US-Präsident die Medien und Menschen verrückt gemacht. Inzwischen hören wir Tag für Tag die Floskel, Europa müsse zusammenrücken und sein Schicksal zur Not auch ohne die USA in die Hand ­nehmen.

Als ich in den Fahrstuhl nach Europa steige, lese ich die Warnung erst, als es schon nach oben geht: „Achtung. Falls der Aufzug wieder stecken bleibt, bitte nicht in Panik verfallen.“ Ich schließe die Augen, träume vom Schnee in Lappland und lande ohne Zwischenfall im dritten Stock.

Auf der dritten Etage in der Kronprinzstraße 13, in der Nähe meines Lieblings­hutladens Louis Lenz, sind inzwischen die Mitarbeiter und Broschüren des früheren Europahauses in der Nadlerstraße gestrandet. Das alte Gebäude musste einem Nobelhotel weichen. An der Großbaustelle hängt zurzeit ein Transparent mit der Aufschrift: „Hier entsteht eine kleine Hotel-Persönlichkeit. Für große Ansprüche.“

Charakterisieren wir das Wesen solcher Immobilien etwas einfacher: Steine sind Scheine.

Die noch junge Einrichtung in der Kronprinzstraße heißt wieder „Europahaus“ und steht so diskret beschildert im Abseits, dass sich kaum jemand ohne triftigen Grund ins Innere verirren dürfte. Im dritten Stock lehnt die blaue „Europa“-Tafel mit ihren drei goldenen Sternen an der Wand auf der Terrasse, daneben der blaue Schriftzug „haus“. Die Stadtverwaltung hält sich Europa erst mal als Provisorium.

Eigentlich müsste gerade bei uns ein europäisches Bewusstsein gewachsen sein. Es war der große, in Stuttgart geborene Revolutionsdichter Georg Herwegh, der schon im 19. Jahrhundert für die Idee eines freien, demokratischen und sozial gerechten Europas kämpfte. Und zuvor gab es diesen – wie Herwegh aus Stuttgart geflohenen – Schiller, dessen Gedicht „An die Freude“ Beethoven in seiner 9. Sinfonie vertonte. Seit 1972 ist diese Melodie die Hymne des Europarats mit Sitz in Straßburg – Stuttgarts französischer Partnerstadt.

Reichlich europäische Geschichte sammelt sich bei uns. Dazu gehört der originelle Einfall von 1960, als Bekenntnis zur Einheitsidee einen Unort auf dem Fasanenhof „Europaplatz“ zu nennen, damit man sieht, dass unsere Liebe zum Kontinent bis in den hintersten Winkel des Kessels reicht. Aufrechten Europäern empfehle ich, irgendwann auf dem Fasanenhof an der U-Bahnhaltestelle „Europaplatz“ auszusteigen. In dieser betonierten Trostlosigkeit wurde 1971 als demokratische Pflichterfüllung ein Weg nach der Stuttgarter Studentin Lilo Herrmann benannt, ein anderer 1980 nach dem Warschauer Arzt Janusz Korczak. Beide wurden von den Nazis ermordet.

Der europäische Gedanke wiederum wurde entschieden aufgewertet, als man vor mehr als zehn Jahren das neue Konsum- und Bankenareal hinter dem Bahnhof „Europaviertel“ taufte. Dort findet man mit Hinweisen auf Paris oder Moskau, Stockholm oder Budapest Straßen und Plätze von so erdrückender Eleganz, dass man sich fragt, was diese Städte verbrochen haben.

Besonders hässlich aber ist der Begriff Europa in die Öffentlichkeit gerückt, seit sich die Berichte über ertrinkende Menschen auf der Flucht im Mittelmeer häufen. Überall in Europa, auch in Stuttgart, erheben sich Proteste gegen Politiker, die Seenotretter kriminalisieren. Auch deutsche Städte wie Berlin und Leipzig treten dem internationalen Forum „Solidarity Cities“ bei, einem Zusammenschluss von Kommunen, die sich nach dem Vorbild der „Sanctuary Cities“ in den USA und Kanada bei der Hilfe für Geflüchtete ihrer zentralen Regierung entgegenstellen.

In Stuttgart hat die Fraktion SÖS-Linke-Plus diese Woche mit einem Antrag im Gemeinderat die Stadt aufgefordert, gerettete Geflüchtete nach dem Vorbild der „Solidarity Cities“ aufzunehmen, um damit ein Zeichen gegen die Unmenschlichkeit zu setzen. Viele sitzen auf Seenotrettungs­booten fest, weil ihnen das Anlaufen europäischer Häfen verwehrt wird.

Interessant an diesem Antrag ist, dass er nach der ersten Beratung im Sozialausschuss von Grünen und SPD als diskussionswürdig begrüßt, von Vertretern der CDU und FDP jedoch mit dem Argument abgelehnt wurde, dieses Problem müsse auf „europäischer Ebene“ gelöst werden. Seenotrettung sei kein lokalpolitisches Thema.

Und da sind wir beim Bewusstsein, beim Denken: Bis heute gilt Europa vielen als abstraktes Gebilde, irgendwo fern der Heimat, in Straßburg womöglich oder in Brüssel. Bezeichnend, wenn man in einer durch und durch international belebten Stadt mitten in Europa Hilfe für Menschen in Not auf die „europäische Ebene“ auslagern will. Als wäre Europa nicht vor der Haustür. Provinzielle Engstirnigkeit bietet dem europäischen Gedanke anscheinend nur Platz, wenn es um offene Grenzen für Tourismus und andere Geschäfte geht. Europa wird zur Festung, und in den Köpfen steht die Mauer. Ich rate zum Fahrstuhl nach Europa, gleich neben meinem Hutladen.

 

Auswahl


Depeschen 2311 - 2318

Depeschen 2281 - 2310

Depeschen 2251 - 2280

Depeschen 2221 - 2250

Depeschen 2191 - 2220

Depeschen 2161 - 2190

Depeschen 2131 - 2160

Depeschen 2101 - 2130

Depeschen 2071 - 2100
21.06.2019

14.06.2019

10.06.2019
07.06.2019

04.06.2019

01.06.2019
27.05.2019

25.05.2019

20.05.2019
18.05.2019

17.05.2019

16.05.2019
15.05.2019

10.05.2019

08.05.2019
03.05.2019

23.04.2019

19.04.2019
20.04.2019

13.04.2019

08.04.2019
06.04.2019

03.04.2019

30.03.2019
23.03.2019

15.03.2019

12.03.2019
08.03.2019

04.03.2019

01.03.2019

Depeschen 2041 - 2070

Depeschen 2011 - 2040

Depeschen 1981 - 2010

Depeschen 1951 - 1980

Depeschen 1921 - 1950

Depeschen 1891 - 1920

Depeschen 1861 - 1890

Depeschen 1831 - 1860

Depeschen 1801 - 1830

Depeschen 1771 - 1800

Depeschen 1741 - 1770

Depeschen 1711 - 1740

Depeschen 1681 - 1710

Depeschen 1651 - 1680

Depeschen 1621 - 1650

Depeschen 1591 - 1620

Depeschen 1561 - 1590

Depeschen 1531 - 1560

Depeschen 1501 - 1530

Depeschen 1471 - 1500

Depeschen 1441 - 1470

Depeschen 1411 - 1440

Depeschen 1381 - 1410

Depeschen 1351 - 1380

Depeschen 1321 - 1350

Depeschen 1291 - 1320

Depeschen 1261 - 1290

Depeschen 1231 - 1260

Depeschen 1201 - 1230

Depeschen 1171 - 1200

Depeschen 1141 - 1170

Depeschen 1111 - 1140

Depeschen 1081 - 1110

Depeschen 1051 - 1080

Depeschen 1021 - 1050

Depeschen 991 - 1020

Depeschen 961 - 990

Depeschen 931 - 960

Depeschen 901 - 930

Depeschen 871 - 900

Depeschen 841 - 870

Depeschen 811 - 840

Depeschen 781 - 810

Depeschen 751 - 780

Depeschen 721 - 750

Depeschen 691 - 720

Depeschen 661 - 690

Depeschen 631 - 660

Depeschen 601 - 630

Depeschen 571 - 600

Depeschen 541 - 570

Depeschen 511 - 540

Depeschen 481 - 510

Depeschen 451 - 480

Depeschen 421 - 450

Depeschen 391 - 420

Depeschen 361 - 390

Depeschen 331 - 360

Depeschen 301 - 330

Depeschen 271 - 300

Depeschen 241 - 270

Depeschen 211 - 240

Depeschen 181 - 210

Depeschen 151 - 180

Depeschen 121 - 150

Depeschen 91 - 120

Depeschen 61 - 90

Depeschen 31 - 60

Depeschen 1 - 30




© 2007-2024 AD1 media ·